Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
jenen antiken Dichter und Bauern, entwickelte ich eine besondere Zuneigung. Wie ich liebte er die Natur und bemühte sich stets ganz besonders, das in Worte zu fassen, was er rings um sich sah. Ich konnte mit Fug und Recht behaupten, dass ich mir Griechisch aneignete, indem ich seine Werke und Tage auswendig lernte, denn diese Verse fügten sich so natürlich in mein Denken ein, dass es mir vorkam, als habe er meine eigenen Gedanken zu Papier gebracht. Es ist sein Nachthimmel, den ich jetzt sehe, durch all die Jahreszeiten hindurch: Arcturus, der sich bei Dämmerung herrlich aus den Ozeanfluten erhebt; die Pleiyaden, wie ein Schwarm Glühwürmchen; Sirius, der in heißen Spätsommernächten die Heuwiesen mit seinem Atem versengt; und Orion, der am Winterhimmel vorüberzieht.
Ich musste für jenes Jahr sehr dankbar sein. Meine Arbeit war im Vergleich zu dem, was ich von früher gewohnt war, wenig anspruchsvoll, und die Whitbys so zuvorkommend und stets gut gelaunt, dass ich mich schon bald bei ihnen so sehr zu Hause fühlte, als gehörte ich zur Familie. Natürlich vermisste ich die Insel, doch ich hatte das Gefühl, alles, was ich hier Tag für Tag lernte, wiege jenen Verlust irgendwie auf. Nur zwei Umstände waren während jener Zeit wie ein kleiner Stachel im Fleische.
Am meisten Sorgen bereiteten mir Caleb und Joel, denn ihre ersten Monate am College waren hart und bitter. Die anderen Studenten mieden sie. Es war nicht gerade so, dass sie sie offen aus ihrer Mitte ausstießen, denn das hätte man ansprechen, bestrafen und schließlich beheben können. Vielmehr taten ihre Mitstudenten nichts, um ihnen das Gefühl zu geben, willkommen zu sein, und heckten allerlei kleine Gemeinheiten aus, indem sie etwa auf den Schulbänken in der Aula keinen Platz für sie freimachten oder beim Essen oder in der kurzen Pause im Hof nie das Wort an sie richteten. Irgendwie – mit welchen Mitteln wurde mir nie ganz klar – gab man ihnen deutlich zu verstehen, dass sie in den geselligen Runden nach dem Abendessen am Kaminfeuer nicht willkommen waren. Man erwartete von ihnen, dass sie sich in ihren freudlosen Raum im Indian College zurückzogen, wo die Aula, die sonst durchaus ein angenehmer Platz gewesen wäre, größtenteils durch die riesige Druckerpresse versperrt war. Später am Abend mussten sie dann hören, wie die englischen Studenten, mit denen sie sich das Gebäude teilten – etwa fünf oder sechs waren in zweien der Gemächer neben ihnen untergebracht –, hereinkamen, immer noch in eine Wolke würzigen Holzrauches gehüllt und in irgendein kluges Gespräch vertieft, von dem sie selber ausgeschlossen waren.
Und so fanden Caleb und Joel Trost beieinander und wurden, ein jeder für den anderen, der Fels in der Brandung. Bei Tage waren sie unzertrennlich, sie sprachen Sätze zu Ende, die der andere begonnen hatte, und des Nachts zogen sie sich in ihr gemeinsames Zimmer zurück, wo sie beim Licht einer Talgkerze noch eine Weile zusammensaßen und sich gegenseitig dabei halfen, die am Tage besprochenen Texte zu verstehen. Wenn ich selbst noch spät wach war, sah ich manchmal das Flackern ihres kleinen Lichts im Fenster ihres Zimmers, bis um Punkt elf nach den Regeln des College die Zeit zum Löschen gekommen war.
Diese Mängel in ihrem gesellschaftlichen Leben gingen über bloß fehlende Kameradschaft oder Freundschaft hinaus. Sie hatten auch eine praktische Konsequenz. Es war üblich, dass die wohlhabenderen Studenten von ihren Familien Essenspakete bekamen – einen Laib Käse, eine Wurst oder Ähnliches. Diese wurden dann meistens des Abends vor dem Kamin gemeinsam verzehrt. Es kam eher selten vor, dass niemand irgendeine Leckerei mitbrachte, mit der man das kärgliche Abendessen etwas aufbessern konnte. Caleb und Joel jedoch, die sowohl von der Kameradschaft als auch vom Genuss dieser Leckereien ausgeschlossen waren, gingen jede Nacht hungrig zu Bett. Und frieren taten sie auch – denn die Holzration, die dem Indian College zugeteilt wurde, war knapp bemessen. Ich fürchtete um ihre Gesundheit ebenso wie um ihren Seelenfrieden. Und so begann ich, ihnen ab und zu etwas zuzustecken, wann immer es mir möglich war: ein Ei hier, etwas Trockenfisch da, oder ich schmierte ein wenig mehr Butter auf das Brot für ihre tägliche Ration. Wenn Maude Whitby etwas merkte, dann war sie freundlich genug, nichts zu sagen.
Zur selben Zeit wurde Caleb für seine hartnäckige Weigerung gemaßregelt, der alten Sitte zu folgen und als
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