Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
als ruhige, fromme Frau, die zwei Jahre älter als mein Bruder war. Aus ihrer kurzen Ehe mit dem Seemann Eliahu Gaze hatte sie einen kleinen Sohn. Als Makepeace mir nun von dem Kleinen vorschwärmte, wurde mir klar, dass er dem Kind ebenso ergeben war wie der Mutter. Ich wünschte ihnen von ganzem Herzen Glück, erst recht, weil das der Witwe hinterlassene Vermögen recht ansehnlich war. Makepeace zeigte sich überaus fair und korrekt und nahm sich die Freiheit, meine Aussteuer aufzustocken, wodurch ich einen größeren Anteil erhielt, als ich erwartet hatte.
Das bedeutete mir mehr, als ich gedacht hätte. Ziemlich unerwartet hatte Samuel damit nun die Mittel, um seinen langgehegten Wunsch in die Tat umzusetzen. Man hatte ihm an der Universität von Padua einen Platz an der chirurgischen Fakultät angeboten, der nur durch ein sehr bescheidenes Stipendium abgesichert war. Mit gewissen Einschränkungen und Umschichtungen waren wir nun tatsächlich in der Lage, das Angebot anzunehmen. Und so stachen wir im Dezember in See. Von Joel und Caleb verabschiedete ich mich mit nur geringen Bedenken, denn das zweite Semester ließ sich recht gut für sie an, sowohl was ihr Studium als auch was ihre lange umkämpfte Stellung innerhalb der College-Gemeinschaft anbelangte. Da nun der Präsident selbst sich so sehr für ihren erfolgreichen Abschluss einsetzte, schien dem nichts mehr im Weg zu stehen.
Es war eine lange und beschwerliche Reise. Doch irgendwann kam der Wintermorgen, an dem ein muskelbepackter Bootsmann unser kleines in Nebel gehülltes Gefährt über eine milchige Lagune steuerte. Er sprach weder Englisch noch Latein, doch als er den Arm hob und damit in eine Richtung zeigte, konnte ich ganz in der Ferne schemenhaft einige Umrisse am Horizont erkennen. Zuerst begriff ich nicht recht, was ich da sah. Wenn ich jemals vom Wasser aus aufs Land geschaut hatte, waren es meist bewaldete Flächen oder locker besiedelte Häfen gewesen. Dann plötzlich wusste ich, worum es sich hier handelte: um einen Horizont, der gänzlich vom Menschen gestaltet war. Und was für ein Horizont: Es waren die Türme und Kuppeln von Venedig, die in der blassen Sonne schimmerten. In der Nähe des Markusplatzes gingen wir an Land, gerade als es auf jenem großen Platz laut wurde. Es war mittlerweile Mittag, und Hunderte von Glocken begannen zu läuten – ein Geräusch, das buchstäblich von allen Seiten zu kommen schien. Es war, als würden die Steine selbst singen.
Für ein Mädchen wie mich, das am Rande einer Wildnis aufgewachsen war, war es sonderbar, an einem Ort zu stehen, auf dem jeder Zoll des Grundes schon seit Jahrhunderten bebaut und besiedelt war. Ich spürte all die Menschen um mich herum und auch die Geister – Scharen von Menschen, die irgendwann vor mir hier gegangen waren und gelebt hatten. Jene Zeit in der Alten Welt – das vollkommen andere Licht, die fremden Gerüche und Geräusche – kehrt jetzt in leuchtenden Farben in meine Erinnerung zurück. Ein Sommertag in Padua. Samuel kehrt aus seinem Anatomiesaal zurück. Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus, während er mir alles erzählt, was er an diesem Morgen über den Kreislauf des Blutes durch knotige Arterien und schlanke Venen gelernt hat. Wir sitzen im Garten, während die Sonne heiß auf bröckelnde rosenrote Wände herunterbrennt und aus den Kräutertöpfen der Duft von Lavendel aufsteigt. Bienen mit von Pollen schweren Beinchen umsummen die winzigen Blüten. Ich reiße ein Stück Brot vom Laib und bestreiche es mit reifem Käse. Ich nehme ein Stückchen von der knotigen Wurzel, die mir unser Hauswirt an diesem Morgen ganz stolz überreicht hat, als handele es sich um einen Edelstein, und reibe sie, wie er es mir gezeigt hat, über den verlaufenden Käse. Urplötzlich steigt ein Aroma empor – fremd, üppig, erdig. Ich füttere Samuel mit dem köstlichen Brot, als wäre er ein Kind. Wir lachen, und er nimmt meine Hand und zieht mich nach drinnen, wo wir uns in unserem abgedunkelten Zimmer auf kühlen Laken ausstrecken.
Wir blieben zwei Jahre in Padua. Am Morgen, wenn Samuel seine Anatomievorlesung hatte, verdiente ich uns ein schönes Zubrot, indem ich zwei charmanten kleinen Komtessen und ihrem ungestümen jüngeren Bruder Englisch beibrachte. Natürlich waren sie katholisch. In jener Stadt, deren Universität schon vor vierhundert Jahren ihre Berühmtheit erlangt hatte, lebten wir auf engstem Raum mit einem ganzen Panoptikum von Menschen zusammen – Juden in
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