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Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Titel: Insel zweier Welten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geraldine Brooks
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getan?«, wollte ich wissen. »Du siehst doch oft genug deinen Tutor, wenn er sich vom Schnaps seiner Kräfte berauben lässt.«
    »Ich wollte es unbedingt wissen«, sagte er. »Ich wollte wissen, wie es ist und ob es irgendwelche Visionen mit sich bringt. Ich dachte, vielleicht verhüllen die äußeren Anzeichen irgendeine Wirkung im Inneren, die jedoch nur dem Trinker vorbehalten bleibt. Ich dachte, es muss einfach sein Gutes haben, da doch so viele hier der Trunksucht verfallen sind.«
    »Und, hat es dir etwas gebracht?«
    »Nein.« Er lächelte. »Nichts außer den Verlust meiner Würde und einen dicken Kopf.« Meines Wissens rührten weder er noch Joel jemals wieder starke Getränke an.
    Durch den Mangel an geistiger Anleitung waren sie in ihren Fortschritten gebremst, ganz gleich, wie lange sie des Nachts über ihren Büchern saßen. Ich wusste, was eine fehlende Anleitung bedeutete und wie sie dem Verständnis des Erlernten entgegenstand. Ich sprach auch Samuel darauf an, weil ich wissen wollte, ob er einen Einfluss auf die Situation habe, doch er winkte ab und meinte, Chauncy sei mit Milfords Familie weitläufig verwandt und auf dem Ohr schon seit langem taub. Indessen sahen sich diejenigen am College, ob nun Studenten oder Lehrpersonal, die von vorneherein gegen das Projekt mit den Indianern gewesen waren, durch die scheinbar mangelnden Fortschritte der Jungen in ihrem Studium bestätigt.
    Das alles wäre immer so weitergegangen, hätte Milford nicht eines Tages den Bogen überspannt und ein Fässchen Süßwein aus Goodman Whitbys wohlgehütetem Lager gestohlen. Whitby befasste sich normalerweise nicht mit Regelverstößen am College. Wenn ihm etwas zu Ohren kam, stellte er sich taub, denn er war der Ansicht, das Verhalten eines Mannes oder Jungen gehe nur seinen Erzeuger, seinen Pfarrer und das beorderte Lehrpersonal am College etwas an. Doch die Vorräte des College waren eine ganz andere Sache. Er war stolz darauf, dass es ihm stets gelang, Engpässe in der Versorgung der Studenten zu vermeiden und mit den kümmerlichen Rationen länger auszukommen als jeder andere. Dadurch wurde ein solcher Diebstahl für ihn zu einem besonderen Affront. Er meldete Chauncy seinen Verdacht, und der Präsident, der große Stücke auf seinen Küchenmeister hielt, ging schnurstracks auf Milfords Zimmer, um ihn mit dem Vorwurf zu konfrontieren. Wie der Zufall es wollte, erwischte er ihn nicht nur beim Süffeln, sondern auch bei einem Schäferstündchen mit einer Hure aus dem Blauen Anker.
    Ich schätze, Chauncy hörte in jenen Tagen schon das Knirschen im Gebälk des College, falls ein solcher Skandal der »Gesellschaft für die Verbreitung des Evangeliums« zu Ohren gekommen wäre und diese ihre Unterstützung zurückgezogen hätte. Und so beschloss er, mit seinen so lange ersehnten indianischen Studenten kein weiteres Risiko einzugehen, sondern Milford von ihnen abzuziehen und Joel und Caleb fortan persönlich zu unterrichten. Dies brachte eine bemerkenswerte Veränderung in ihrem Status mit sich. Von Studenten, die zuvor kaum mehr gewesen waren als tolerierte Pflichtteilnehmer, entwickelten sich die beiden jungen Männer rasch zu Chauncys Vorzeigeobjekten. Er unterrichtete sie so sorgfältig, wie er es bei seinen eigenen Söhnen getan hätte. Als das Jahr sich dem Ende zuneigte, hatte er die Defizite in ihrer Ausbildung längst ausgeglichen, und als die Ergebnisse der Prüfungen bekannt wurden, stellte sich heraus, dass sie nicht wenige ihrer Klassenkameraden übertrumpft hatten.

III
    Der zweite, freilich geringere Schatten, der in jenem Jahr auf mein Leben fiel, war mein eigener Kampf gegen die ungezügelte Begierde. Nach jener Begegnung am Tage des Herrn in der Bibliothek achteten Samuel und ich peinlich darauf, uns nicht mehr allein zu treffen, sondern nur in Anwesenheit anderer. Es war notwendig, dies zu tun, denn wir kannten nun beide unsere Schwäche in dieser Beziehung. Nach jenem Tag in der Bibliothek hatte ich mehrere schlaflose Nächte, während ich darauf wartete, dass der Monatsfluss einsetzen möge, denn ich wusste, wenn das nicht geschah, dann hätte ich nicht nur mich selbst ruiniert, sondern auch Samuels Leben und das des Kindes, nur weil ich einen Moment lang in den Sog ungehemmter Fleischeslust geraten war. So hinfällig mein Körper heute auch ist, und so lange das fleischliche Leben bereits hinter mir liegt, kann ich mich dennoch aufs Lebhafteste daran erinnern, wie es sich in jenem Jahr anfühlte,

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