Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
fragte er, »sagen sie dir etwas?« Ich lächelte. Ich konnte gut verstehen, dass für seine ungeschulten Augen die Seite tatsächlich wie ein verschneites Feld aussehen mochte, auf dem sich das Zickzackmuster aus Schneeschuhabdrücken abzeichnete, wenn die niedrig stehende Wintersonne darauf fällt. Ich bejahte seine Frage und zeigte ihm das Wort für »Hirsch«, woraufhin er schnaubte und sagte, das sehe aber überhaupt nicht wie ein Hirsch aus, sondern eher wie eine Schnecke. Das wiederum brachte mich zum Lachen, denn er hatte recht: Jetzt konnte auch ich die Schnecke sehen, den großen Kopf mit den Fühlern und den länglichen Körper, den die Buchstaben bildeten. Ich erklärte ihm, die Buchstaben seien eine Art Botschaft, so wie die Muster in den wampum- Gürteln, die die sonquems trugen und die eine Art verkürzte Fassung der Geschichte des Stammes schilderten. Doch anders als die Gürtel, die sehr seltene Einzelstücke seien, gebe es von diesem Buch Hunderte von Exemplaren, die alle genau gleich seien.
»Bei Manitu!«, rief er aus. »Dann wissen jetzt also die Mantelmänner jenseits des Meeres alles über die Pflanzen und Tiere hier, obwohl sie doch so viele Tagesreisen von uns entfernt sind?«
Ja, sagte ich, genau das. Und so könnten die Menschen auch erfahren, was im Kopf eines anderen vorging, obwohl sie ihn nie getroffen hätten. »Selbst diejenigen, die vor vielen, vielen Jahren gelebt haben, können uns etwas hinterlassen, aus dem wir zu lernen vermögen.« Ich erzählte ihm, wie wir auf diese Weise von großen Städten wie Rom und Athen erfahren hätten; dass wir über ihre Krieger und die Kriege lesen könnten, welche sie damals geführt hatten; und dass ihre weisen Männer darüber gestritten hätten, wie ein gottesfürchtiges Leben zu führen sei. »Und obwohl ihre Städte längst zu Ruinen und ihre Krieger zu Staub zerfallen sind, leben sie noch immer für uns in ihren Büchern.«
Mir bereitete das großen Spaß, denn bisher war immer er derjenige gewesen, der mir etwas beigebracht hatte, und jetzt konnte ich den Spieß umdrehen. Ich streckte die Hand nach dem Buch von Wood aus. »Möchtest du hören, was er über dein Volk zu sagen hat?« Er nickte, wobei er leicht die Stirn runzelte.
»Und das alles kannst du aus diesen Spuren lesen?« Ja, sagte ich. »Es kann durchaus sein, dass ich ab und zu über ein unbekanntes Wort stolpere, dessen Bedeutung mir fremd ist. Aber meistens finde ich das über die Wörter heraus, die drum herum stehen …« Derweil ich sprach, suchte ich nach der Stelle, die mir vorschwebte, und als ich sie gefunden hatte, zeigte ich auf die Zeilen und las laut vor, wobei ich die Worte rasch in seine Sprache übersetzte. »Hier schildert er, dass ihr zuvorkommend und gastfreundlich seid und gerne Leuten von der Küste helft, die von der Nacht überrascht wurden und sich verlaufen haben. Und er schreibt, dass ihr Dinge könnt, die wir nicht können, zum Beispiel Biber fangen, die für die Engländer zu schlau sind.«
Ich hatte gedacht, er würde sich über diese und andere Schmeicheleien freuen, doch während ich weiterlas, wurde seine Miene nur noch finsterer. Als ich mit dem Lesen innehielt, sagte er nichts. Ich fragte, was ihn denn so beschäftige. »Mein Vater sagt, dass wir vor langer Zeit, lange bevor unsere Brüder auf dem Festland mit den ersten Mantelmännern durch die Gegend zogen, weise Männer hatten, die den Menschen Wissen beibrachten. Doch sie sind den unsichtbaren Kugeln zum Opfer gefallen, die die Mantelmänner auf sie abschossen, und sind gestorben, bevor sie ihre Kunde weitergeben konnten. Hätten wir damals die manit, die Weisheit, dieses Buches besessen, dann wäre ihr Wissen nicht mit ihnen begraben worden.« Er wirkte niedergeschlagen und geistesabwesend und strich wieder und wieder über das Buch, als wäre es lebendig. »Gib mir das«, bat er.
Ich spürte, wie der Boden unter mir bebte, denn seine Bitte brachte mich in Verlegenheit. Es stand mir nicht zu, ihm das Buch zu geben, doch ich fürchtete, das würde er nicht verstehen. Vater hatte oft über die Schwierigkeiten gesprochen, die er mit der indianischen Vorstellung vom Schenken hatte. Für die Rothäute hatte persönlicher Besitz nur eine geringe Bedeutung. Ein Mann verschenkte leichten Herzens jede Schüssel und jeden Gürtel, jedes Kanu und jeden Speer, die er besaß, ohne groß darüber nachzudenken, weil er wusste, dass er dafür schon bald in einer Versammlung entweder von seinem sonquem
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