Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Titel: Insel zweier Welten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geraldine Brooks
Vom Netzwerk:
waren die beiden vom Äußeren her ein eher ungleiches Paar. Caleb, ein Kind der Wildnis, besaß die langgliedrige, sehnige Beweglichkeit eines Jungen, der daran gewöhnt ist, auf der Jagd neben seinen Stammesbrüdern durch die Wälder zu laufen. Seine Augen waren scharf und sein Blick durchdringend. Joel war in jeder Hinsicht weicher – schwerer gebaut, mit trägeren Augen, die oft verträumt und nachdenklich blickten. Wie sein Vater war er von kleiner Statur, was unter seinesgleichen eher ungewöhnlich und einer der Gründe war, warum die Krieger seines Stammes Iacoomis gemieden hatten. Doch wie sein Vater hatte er einen beweglichen Geist und eine entschlossene Art. Caleb und Joel lernten beide leicht, und Vater war mehr als zufrieden mit dem Nutzen, den sie aus seinem Unterricht zogen. Als das Wetter milder wurde, sah ich sie oft miteinander spazieren gehen, oder sie hockten beisammen, die dunklen, kurzgeschorenen Köpfe tief über ein Buch gebeugt oder über irgendeinen Witz lächelnd, den nur sie verstanden, und es gab mir vor Neid einen Stich, denn die beiden strahlten eine Vertrautheit aus, die für Caleb und mich der Vergangenheit angehörte.
    Dabei wäre in meinem Leben für derlei gar kein Platz mehr gewesen, selbst wenn die Schicklichkeit es erlaubt hätte. Ich hatte mit den Anforderungen des Frühjahrs zu kämpfen, blieb oft die halbe Nacht wach, um einem Schaf bei einer schwierigen Geburt beizustehen, und stand noch vor Morgengrauen wieder auf, um meinen täglichen Pflichten nachzugehen, die oft wie ein kaum zu bewältigender Berg vor mir lagen. Immer musste ich ein Auge auf Solace haben, die jederzeit irgendein scharfes Werkzeug, das sie für ein Spielzeug hielt, in die Hand nehmen, oder einen Kessel mit kochendem Wasser auf sich herabziehen konnte – wie es Tante Hannahs siebtes Kind getan und sich dabei so schwer verbrüht hatte, dass es gestorben war, das arme Ding. Ich freute mich schon jetzt auf den nicht mehr allzu fernen Tag, wenn Solace mir eine Hilfe sein würde statt eine Last, wenn sie anfangen würde, selber die Hühner zu füttern, Eier einzusammeln und andere kleine Aufgaben zu erledigen, wie ich es mit Freuden für Mutter getan hatte, als ich selbst noch ein kleines Mädchen war.
    Oft, wenn ich sie badete oder in meinen Armen wiegte, schaute ich in ihre himmelblauen Augen und fragte mich, was sie wohl dereinst für einen Charakter an den Tag legen würde. Dann strich ich mit dem Finger über ihre runde Wange und kitzelte sie an den weichen, sahnig weißen Speckfältchen unter ihrem Kinn. Sie schaute mich mit einem intensiven, wissenden Blick an, und ich stellte mir vor, wie sie mir in etwa einem Jahr am Rockzipfel hängen würde, so wie ich einst bei Mutter. Schließlich war ich die einzige Mutter, die sie je gekannt hatte, und ich war entschlossen, mich der Aufgabe, die mir Gott gestellt hatte, als würdig zu erweisen. Auch später, als junges Mädchen, würde sie immer bei mir sein, und ich würde ihr die Welt eröffnen und ihr alles zeigen und beibringen, was ich selbst gelernt hatte. Wenn sie lesen und schreiben lernen wollte, dann würde sie es nicht, wie ich, allein lernen müssen. Dafür würde ich schon sorgen. Ich würde die Zeit erübrigen, sie zu unterrichten, ganz gleich, was Vater oder Makepeace dazu sagten. Und ich würde keinen Mann heiraten, der weder den Grips noch das Herz besaß zu verstehen, dass es meine heiligste und wichtigste Aufgabe war, Solace ins Leben einzuführen.
    Sie spielte neben mir, wenn ich die Sämlinge in die Erde setzte, sie hob Erdklumpen hoch, zerdrückte sie mit ihren winzigen, in Handschuhen steckenden Fingern und beschmierte sich das Gesicht mit Lehm. Ich war zu der Überzeugung gekommen, dass die Wampanoag, die so liebevoll mit ihren Kindern umgingen, in dieser Hinsicht klüger waren als wir. Was für einen Nutzen hatte es, von den Kleinen zu verlangen, dass sie sich benahmen wie Erwachsene? Warum sollte man ihre kleinen Charaktere zügeln und alles daransetzen, ihre von Gott gegebene Natur zu brechen, bevor sie auch nur im Geringsten begreifen konnten, was eigentlich von ihnen verlangt wurde? Und so lächelte ich ihr nur zu und schnitt Grimassen, obwohl ich wusste, dass ich später ihre Kleidung und ihr seidiges Haar wieder vom Schlamm säubern musste und für all das lauten Protest ernten würde. Doch das war ein geringer Preis für den glockenhellen Klang ihres fröhlichen Lachens.
    An jenem Abend, bei Tisch, blickte ich Caleb verstohlen

Weitere Kostenlose Bücher