Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
hinaus, um noch einmal Wasser zu holen. Wie gewöhnlich hob ich den Deckel des Brunnens in die Höhe und ließ den Eimer nach unten. Als ich ihn wieder hochholte, sah ich selbst im Zwielicht, dass darin etwas Dunkles und Unerquickliches schwamm. Ich steckte die Hand in das eisige Wasser und zog sie sofort wieder zurück, denn sie hatte das Fell einer toten Ratte berührt, die es offenbar geschafft hatte, in den Brunnen zu fallen und zu ertrinken, obwohl ich mir angesichts des immer geschlossenen Deckels nicht recht vorstellen konnte, wie das passiert war. Dann wurde mir bewusst, dass ich wahrscheinlich selber, abgelenkt durch Caleb, an diesem Morgen den Deckel offen gelassen hatte. Jemand musste ihn im Laufe des Tages wieder darübergeschoben haben. In der zunehmenden Dunkelheit war nicht viel zu erkennen, weshalb ich den Deckel schloss, das verseuchte Wasser auskippte und die Untersuchung des kleinen, nassen Kadavers auf den nächsten Morgen verschob. Glücklicherweise hatte ich noch etwas Wasser im Kessel übrig, mit dem wir uns vor dem Abendessen waschen konnten.
Der Unterricht war beendet, doch Caleb saß immer noch über sein Buch gebeugt am Tisch, als ich hereinkam und ihm von dem unangenehmen Vorfall am Brunnen berichtete. Vater zuckte mit den Schultern. »Wir können uns glücklich schätzen, dass wir hier in Great Harbor nicht tief graben müssen, wenn wir eine frische Quelle suchen. Gleich morgen früh schauen wir nach, ob die Gefahr besteht, dass das Wasser verdorben ist. Einen neuen Brunnen zu graben, dürfte ohne großen Aufwand machbar sein, und in der Zwischenzeit können wir unser Wasser bei den Nachbarn holen.«
Ich stellte fürs Abendessen den Käsebruch und etwas Brot hin. Vater und Makepeace gingen in die Speisekammer, wo ich die Schüssel mit angewärmtem Wasser bereitgestellt hatte, während Caleb über seiner lateinischen Formenlehre brütete und sich leise die neuen Wörter zuflüsterte, die er gerade gelernt hatte. Als ich den Tisch deckte, schaute er auf und folgte mit dem Blick meinen Händen. Er blätterte noch einmal kurz in dem Lehrbuch und schloss es dann, auf den Lippen ein zufriedenes Lächeln. »Puella …« Hier zeigte er auf mich. » Mensam …« Dann auf den Tisch. » Ornat … deckt«, sagte er leise. Ich hielt inne, wieder einmal verblüfft über die Flinkheit seines Verstandes. Er blickte auf, und als wir uns anlächelten, war die Vertrautheit früherer Zeiten wieder da. »Ich habe deine Unterrichtsstunden vermisst, Sturmauge«, flüsterte er. Dann ging auch er hinaus, um sich an der Wasserschüssel zu waschen.
III
Und so ging es weiter, Tag für Tag, während sich das Wetter beruhigte und das frühe Saatgut in der Erde zu keimen begann. Zunächst hielt sich Caleb fern von Joel. Er erinnerte mich an einen wachsamen Hund, der mit gesträubtem Nackenhaar das Anpirschen eines Artgenossen beobachtet. Joel war immer ein stiller Junge gewesen, der mit seinem Vater bei uns ein und aus ging, jedoch wenig sagte. Im Grunde hatte ich im Laufe der Jahre kaum mehr als ein Dutzend Sätze mit ihm gewechselt und mir kein rechtes Bild über seinen Charakter gemacht. Sein Umgang mit Calebs misstrauischer Art gab mir allerdings zu erkennen, dass er einiges von der Selbstbeherrschung und dem Mut seines Vaters übernommen hatte. Weder kuschte er vor Caleb, noch versuchte er ihn mit Schmeicheleien zu gewinnen. Doch auf verschiedene, sehr feine Weise gab er ihm zu verstehen, dass er ihm ein guter Verbündeter sein könnte, indem er Caleb gelegentlich bei der Suche nach dem richtigen englischen Ausdruck half oder ihn mit einem unauffälligen Blick korrigierte, wenn damit zu rechnen war, dass Caleb gegen die englischen Sitten verstoßen würde. Weil Caleb flink und scharfsinnig war, machte Joel mit diesen feinen Hilfestellungen Makepeace oft einen Strich durch die Rechnung, denn mein Bruder wartete auf jede Gelegenheit, Caleb rügen oder ihn für eine Verfehlung verspotten zu können.
Es vergingen nur wenige Wochen, bis Caleb und Joel auf kameradschaftlichem Fuß miteinander verkehrten. Daraus erwuchs rasch eine Freundschaft, was für zwei Jungen, die so viel Zeit miteinander und so wenig mit allen anderen in ihrer Umgebung verbrachten, nichts Ungewöhnliches war. Calebs selbstbewusste Art schien auch auf Joel abzufärben, und der Jüngere traute sich nun öfter, in Gesellschaft das Wort zu ergreifen, wodurch ich ihn wiederum besser kennen und seine sanfte, großzügige Art schätzen lernte. Dabei
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