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Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Titel: Insel zweier Welten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geraldine Brooks
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größer, weil Mutter nicht mehr an seiner Seite war, die seine ganze Kraft benötigt hätte, um darüber hinwegzukommen. Und tatsächlich war es so, als hätte der Verlust des kleinen Mädchens den Schorf von der Wunde gerissen, die er bei Mutters Verlust erlitten hatte. Es war nur etwas mehr als ein Jahr vergangen seit ihrem Tod, und jetzt war unsere ganze Trauer um sie wieder da und verstärkte das Entsetzen über das, was mit Solace passiert war.
    Auch Makepeace fühlte sich verantwortlich für das Unglück, doch sein Glaube zeigte ihm wie immer den Weg und wies ihn an, sich Gottes Willen ohne Klage zu beugen. Wenn wir weinten, betete er. Dieses Mal war jedoch sein Fleisch schwächer als sein Geist, denn auf seiner Haut bildeten sich nässende Geschwüre, und sein Haar begann in kleinen Büscheln auszugehen.
    Auch Joel und Caleb trauerten. Obwohl sie unsere christlichen Gebete mit uns sprachen, bin ich mir sicher, dass die beiden nach dem Begräbnis zusammen in den Wald gingen und ihre Gesichter mit Asche beschmierten, so wie man es bei ihrem Volk tut, wenn ein Kind gestorben ist. An dem Tag, der dem Begräbnis folgte, fand ich auf Solaces Grab ein paar immergrüne Zweiglein, die ganz gewiss nicht von englischer Hand dorthin gelegt worden waren. Ich war mir sicher, dass Caleb dahintersteckte. Joel ist nicht mehr mit den heidnischen Bräuchen seines Volkes aufgewachsen, in denen es heißt, ihr Gott habe Mann und Frau aus einem Kiefernbaum geschaffen, und selbst wenn er sie im Allgemeinen kennt, so glaube ich nicht, dass er sich veranlasst gefühlt hätte, etwas Derartiges zu tun. Falls es Vater bewusst war, dass sie heidnische Riten vollzogen hatten, so sagte er in meiner Anwesenheit jedenfalls nichts dazu. Doch für mich, die ich den Waschzuber leerte und ihre Ärmel und Krägen schrubbte, war es offensichtlich.
    Und auch das will ich hier festhalten: In der Nacht, bevor wir Solace beerdigten, hielt Vater bei ihr Totenwache. Als ich ihren kleinen Körper zum letzten Mal wusch, mischten sich meine Tränen mit dem Badewasser. Ich hatte ihr ein einfaches Kleidchen genäht und es mit Spitze von unserem Taufkleid besetzt. Mutter hatte es einst für mich angefertigt, und Solace hatte es an dem Tag getragen, als wir sie, noch immer in Trauer um Mutter, zum Versammlungshaus gebracht hatten, um sie taufen zu lassen. Während ich nähte, zimmerten Vater und Makepeace zusammen ihren kleinen Sarg, und der Duft von Kiefersägespänen hing in der Luft. Wir hatten sie bereits hineingelegt, aber noch nicht den Mut gefunden, den Deckel zuzunageln. So saßen wir und beteten, bis Vater uns zu später Stunde alle zu Bett schickte. Ich fühlte mich so leer an, dass ich nicht schlafen konnte. Ganz früh am Morgen hörte ich von unten ein Geräusch und dachte, das könne nur Vater sein, der vor Ruhelosigkeit und Kummer keinen Schlaf finde. Ich warf mir den Schal um die Schultern und wollte bereits hinuntergehen, als ich sah, dass es Caleb war, der sich da zu schaffen machte. Vater war in seiner Erschöpfung am Tisch eingeschlafen. Caleb stand neben Solace. Ich sah, wie er ihre winzige Hand hob und ihr etwas zwischen die Finger legte.
    Am Morgen ging ich heimlich zu Caleb und fragte ihn, was er getan habe, weil ich fürchtete, das, was er ihr in die Hand gedrückt hatte, könne etwas Unchristliches gewesen sein. Er sagte mir, es sei ein Stück Pergament gewesen, auf dem er in Schönschrift eine Passage aus der Heiligen Schrift kopiert hatte. Lasset die Kindlein zu mir kommen … Er habe das Schriftstück mit seinem eigenen, mit Wampum-Muscheln besetzten Armband aus Rehleder an die Holzpuppe gebunden, die Makepeace für sie geschnitzt und mit der sie in den letzten Monaten ihres Lebens so gerne gespielt hatte.
    »Ein Medizinbeutel, so wie ihn die pawaaws benutzen?«, fragte ich, etwas beunruhigt.
    »Nein«, sagte er gelassen. »Nicht ganz.«
    »Aber doch gewiss etwas Ähnliches …«, sagte ich und knetete meine Hände.
    Er streckte die Hände aus und legte sie auf die meinen, löste ganz behutsam meine verknoteten Finger. In den Monaten, seit er zu uns gekommen war, waren seine Hände weniger rau geworden.
    »Warum sollten wir sie begraben ohne eine Liebesgabe, die wir ihr alle zusammen schenken? Dein Vater predigt, dass nicht alles aus dem alten Glauben böse ist. Wenn, wie er es darstellt, unser Schöpfergott Kiehtan euer Jehova mit anderem Namen ist, warum sollen wir dann den alten Brauch ablegen, den wir von ihm haben, nämlich dem

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