Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
menschliche Wesen, bei dem es ihm leichtfiel, seine wahre Zuneigung zu zeigen. Außerdem gewährte das Spielen ihm, wenn ich es heute recht bedenke, eine kurze Pause vom Unterricht und verschaffte ihm eine gewisse Ausrede für sein langsames Lernen. So hielten wir es, Tag für Tag, und für mich gab es keinen Grund, diese Übereinkunft in Frage zu stellen.
Weil es ein so schöner Tag war, hatte ich beim Ernten keine Eile, während es immer heißer und schwüler wurde. Ich ließ mir Zeit, pflückte die jungen, knackigen und saftigen Bohnen von ihren Stengeln und begab mich dann gemütlich auf den Heimweg. Auf dem Weg sang ich einen Psalm vor mich hin und dachte kaum daran, dass ich mich beeilen müsste, ehe ich an der Haustür die Hand auf den Riegel legte. Vater las laut die Polyphem-Episode aus der Odyssee, und man hätte eine Stecknadel fallen hören, so mucksmäuschenstill waren seine Zuhörer. Da aus Solaces Bettchen nichts zu hören war, ging ich davon aus, dass sie noch schlief. Ich band meine Haube auf, warf sie schwungvoll auf den Haken hinter der Tür und machte mir in der Speisekammer zu schaffen, wo ich die Körbe auslud, einige der zartesten Bohnen aussortierte, die man gleich ganz frisch essen konnte, und die fetteren auf Regale legte, um sie für die Winterlagerung zu trocknen und zu enthülsen. Und ich will es gerne zugeben: Auch ich lauschte der altbekannten Erzählung aus Vaters Mund und wartete auf meine Lieblingszeilen, die nämlich, wo Odysseus in seinem Stolz verrät, wer er ist, und sich den Zorn des Polyphem zuzieht, der ihn und seine Männer so teuer zu stehen kommen wird. Es war eine berührende Stelle in Homers Epos, und wie immer war ich verblüfft, dass ein heidnischer Dichter vor langer Zeit schon so viel über das menschliche Herz gewusst haben sollte, und wie wenig sich dieses Herz geändert hatte, obwohl die großen Städte der Antike längst untergegangen und neue Zeitalter angebrochen waren, die den alten, heidnischen Glauben hinweggefegt hatten.
Darüber dachte ich noch eine Weile nach, als Vater seine Lesung bereits beendet und die Jungen aufgefordert hatte, mit der Übersetzung zu beginnen. Da endlich fiel mir Solace wieder ein. Ich ging hinein und fand ihr Bett leer vor. Ich schaute unter dem Tisch und in den Ecken nach, auch überall sonst im Zimmer, und hatte noch immer keine böse Vorahnung, weil ich fest davon überzeugt war, sie gleich irgendwo friedlich spielend vorzufinden, an einem Ort, an dem nicht mit ihr zu rechnen war.
Erst als ich sie nicht fand, unterbrach ich Vater und fragte, wo sie wohl sein könne.
Er schaute mich erschrocken an und blickte sich voller Verwirrung im Zimmer um.
»Gerade eben war sie noch hier. Sie ist aufgewacht und hat gequengelt, weshalb ich Makepeace bat, sie zu holen und hierher neben mich zu setzen …«
Caleb und Makepeace waren bereits aufgesprungen, gefolgt von Joel. Makepeace tat das, was auch ich bereits getan hatte, und suchte jede Ecke ab. Wir alle waren verwirrt, und unsere Suche wurde immer aufgeregter, wieder und wieder riefen wir ihren Namen. Nur Caleb schoss in diesem Moment wie ein Pfeil nach draußen, und hatte die kurze Strecke in wenigen, langen Schritten zurückgelegt.
Sie lag mit dem Gesicht nach unten in dem flachen, nicht einmal einen Meter tiefen Wasserloch, aus dem einmal unser neuer Brunnen hätte werden sollen. Nach den Regenfällen der vergangenen Nacht hatte sich Wasser darin gesammelt, nur wenige Zoll. Und doch hatten sie genügt, um das kleine Mädchen, das auf wackeligen Füßen zum Rand der Vertiefung getapst und hineingefallen war, ertrinken zu lassen.
Caleb hob den schlaffen, schlammigen kleinen Körper in die Höhe und eilte zurück zu Vater und mir in den Garten. Er schrie etwas auf Wampanaontoaonk. Makepeace, der aus dem Haus kam, sah ihn und heulte auf wie ein verwundetes Tier.
Ich erinnere mich noch an das Wasser, das vom Saum ihres Kleidchens tropfte und aus ihrem seidigen Haar floss, als Caleb sie in die ausgestreckten Arme meines Vaters legte. Die Tropfen glitzerten im Sonnenlicht, als würde ein Engel ihren Weg zum Himmel mit kleinen Juwelen bestreuen.
VI
Es war, als würden wir Zuriels Tod noch einmal erleben. Damals hatte sich Vater – grundlos, denke ich – Vorwürfe gemacht, weil er Zuriel mit dem Wagenrad überfahren hatte, und jetzt konnte er es sich nicht verzeihen, dass er nicht auf Solace aufgepasst hatte, solange sie in seiner Obhut war. Sein Schmerz war vielleicht sogar noch
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