Inselglück
Merediths Lieblingsmaler, seit sie als Fünfzehnjährige mit ihrem Vater im Philadelphia Museum of Art eine Ausstellung seiner Werke besucht hatte.
Der Champagner, die stillen, nur auf sie wartenden Säle, der hochgebildete Kurator mit seinem elegant akzentuierten Englisch – ja, an diesem Tag hatte Meredith begriffen, dass sie reich waren.
Meredith überprüfte die Hintertür: abgeschlossen. Sie überprüfte die Haustür: abgeschlossen. Sie überprüfte die Alarmanlage: aktiviert. Die Fenster waren zu und verriegelt; die Klimaanlage war angestellt. Meredith spielte mit dem Gedanken, den Fernseher einzuschalten. Andere Stimmen im Raum würden ihre Angst vielleicht lindern. Aber Connie schaltete den Fernseher nie ein, und das würde Meredith auch nicht tun. Sonst stieß sie womöglich auf etwas, das sie gar nicht wissen wollte, oder auf »Frederick Xavier Delinn: Die wahre Geschichte«.
Sie ging nach oben.
Sie konnte nichts dagegen tun, dass sie sich wie eine Frau in einem Horrorfilm fühlte, die in einem dunklen Zimmer ein unerwartetes Ende finden wird. Sie wusste nicht, wie sie dieses Gefühl abschütteln und sich entspannen sollte. Sie war doch in Sicherheit. Seit Wochen waren Haus und Wagen unversehrt geblieben. Es war August, und Amy Rivers war bestimmt nicht mehr auf Nantucket. Sie, Meredith, war nicht in Gefahr. Die Türen waren verschlossen, die Alarmanlage war an.
Sie musste schlafen. Und das bedeutete, dass sie eine Schlaftablette brauchte. Sie wusste, dass Connie so etwas hatte. Sie hatte die Arzneimittelfläschchen gesehen.
Meredith tastete sich in Connies Badezimmer. Sie musste Licht machen. Aber das war okay, denn es war Connies Licht. Wer immer sie von draußen beobachtete, würde Connies Licht angehen sehen und glauben, Connie sei zu Hause. Meredith knipste es an. Die Arzneimittelfläschchen standen genau an der Stelle, die sie in Erinnerung hatte. Sie sah auf die Etiketten: Zolpidem, Zopiclon, Lorazepam, Prozac, Seroquel, Zoloft. Connie hatte die gesamte Bandbreite an Schlafmitteln und Antidepressiva vorrätig. Meredith schüttelte die Flaschen; alle waren voll.
Sie schwankte zwischen Zolpidem und Zopiclon, entschied sich für Zolpidem und nahm zwei davon. Außerdem nahm sie sich zwei Lorazepam, für später, wenn sie sie vielleicht wirklich brauchen würde. Die Zolpidem schluckte sie sofort, mit Leitungswasser.
Das hier war Diebstahl. Gott, wie sie das Wort hasste. Sie würde Connie erzählen, dass sie zwei Zolpidem genommen hatte, dann wären sie praktisch nur geliehen. Sie redete sich ein, sie würde Connie auch das Lorazepam beichten, obwohl sie wusste, dass sie das nicht tun würde. Wenn Connie ihre Tabletten nicht nachzählte, würde sie es nie merken, und außerdem waren es nur zwei Lorazepam, völlig harmlos.
So lief das also mit dem Stehlen, stimmt’s, Freddy? Man »lieh« sich ein bisschen, und niemand würde es je merken; man zahlte Renditen von 22, 23, 25 Prozent, und alle waren glücklich. Man konnte endlos weitermachen. Man würde tot sein, bevor einem jemand auf die Schliche kam.
Meredith verhielt sich wie eine Diebin, indem sie die Flaschen genau so zurückstellte, wie sie sie vorgefunden hatte, und sie noch einmal anhob, um festzustellen, ob ein Gewichtsunterschied zu spüren war.
Während sie durch den Flur schlich, hörte sie ein Poltern und Quietschen. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Wieder Quietschen, diesmal länger. Ein quietschender Reifen.
Blut hämmerte in ihren Ohren. Ihr war heiß vor Panik, und sie hatte Angst, sie würde ihr Abendessen erbrechen – zusammen mit den Tabletten, die sie gerade genommen hatte. Sie atmete tief. Entweder bildete sie sich die Geräusche ein, oder Connie war nach Hause gekommen, oder draußen drehten Polizisten ihre Runde. (Wurden sie weiterhin von der Polizei bewacht? Meredith hätte Connie anrufen lassen sollen, um sie zu fragen.)
Wieder hörte Meredith einen dumpfen Schlag, definitiv, und dachte: Okay, was soll ich tun? Ihr Instinkt riet ihr, sich ganz still zu verhalten, wie sie es bei dem Anblick von Amy Rivers in der Buchhandlung getan hatte. Sie schloss die Augen und regte sich nicht, wie ein Tier im Wald, das hofft, der Jäger möge wieder verschwinden.
Ein weiteres Poltern und Quietschen. Es kam von draußen. Vor dem Haus waren Leute, hier, im entlegenen Tom Nevers. Irgendwie hätte Meredith gern aus dem Fenster geschaut, um festzustellen, was los war. Vielleicht war es die Polizei, und wenn nicht, dann jemand, den sie
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