Inselglück
probieren. Sie hatte Zehntklässler gezwungen zu lesen; manche von ihnen hatte sie Lesen gelehrt. Sie hatte ihnen Carson McCullers’ Roman Das Mädchen Frankie zugemutet. Für einige Schüler war es, als hätte man ihnen eine Decke über den Kopf geworfen – sie sahen rein gar nichts. Für andere Jugendliche dagegen bedeutete das Buch ein Tor, das ihnen den Weg zu weiteren Büchern öffnete. Meredith las ihren Klassen jeden Tag ein Gedicht vor, und an manchen Tagen hörte niemand zu – alle waren damit beschäftigt, über die Basketballer der New York Knicks oder Hector Alvarez’ neue Corvette zu reden oder Heroin zu schniefen. Oder sie sagten: Was soll der Scheiß mit der roten Schubkarre und irgendwelchen bekloppten weißen Hühnern? Aber an anderen Tagen las Meredith Gwendolyn Brooks oder Nikki Giovanni, und über die Hälfte der Schüler zeigte gelindes Interesse. »A Boy Died in My Alley« bewirkte die Reaktion: Hey, Mann, das ist ja wie bei Lippy Magee, als sie den hinter der Klinik abgestochen haben. Und Meredith sagte: »Okay, alle mal die Stifte rausholen.«
Sie erhielt einen Hungerlohn, fuhr täglich mit der U-Bahn, kam völlig erschöpft nach Hause – und manchmal war Freddy dann noch bei der Arbeit. Als sie schwanger wurde, hatte sie Angst, wenn sie in der Bronx unterwegs war, und war noch erschöpfter, wenn sie mit ihren Einkaufstüten die vier Treppen zu ihrem Apartment hinaufstieg. Sie dachte daran, zu kündigen, doch dann erklärte Freddy, er würde bei Prudential aufhören und seinen eigenen Hedgefonds gründen. Warum sollte er so hart arbeiten, um Geld für ein Großunternehmen zu verdienen, wenn er dieses Geld auch selbst verdienen konnte?
Meredith blieb ein weiteres Jahr an der Gompers und dann noch ein Jahr. Sie brauchten ihre Krankenversicherung. Freddy hatte Probleme, die neue Firma zum Laufen zu bringen. Meredith wurde erneut schwanger. Sie hatten keinen Platz für ein zweites Kind und konnten es sich nicht leisten, umzuziehen.
Eines Abends lag Meredith, während der achtzehnmonatige Leo in seiner Wiege wimmerte und Freddy mit potenziellen Investoren ausgegangen war, die am Ende dann meistens doch nicht investierten, in der Badewanne und weinte. Sie dachte daran, wie ihr Vater gesagt hatte: Hochintelligent und begabt; das Mädchen vertut sich nie. War er im Irrtum gewesen? Und wenn nicht, was zum Teufel hatte sie dann hier zu suchen?
Meredith trank ihren Wein aus und starrte auf den wunderbaren Salat. Würde sie sich zum Essen überwinden können?
Es wurde dunkel, und sie wusste, dass sie Licht anmachen sollte, aber sie hatte das furchtbare Gefühl, dass die Person, die sie beobachtete, sehen würde, wie sie in dem erleuchteten Raum allein aß. Sie stocherte in dem Salat – nicht weil sie Hunger hatte, sondern weil Connie ihn für sie zubereitet hatte. Connie war so eine gute Köchin, eine gute Freundin, ein guter Mensch. Sie hatte nicht einmal die grauenhaften Dinge erwähnt, die Meredith vor Jahren zu ihr gesagt hatte. Meredith hoffte, dass Connie sich heute Abend amüsierte; sie und Dan waren sicher noch beim Essen. Falls Meredith berechtigte Angst empfand, konnte sie Connie auf dem Handy anrufen. Jetzt, später aber nicht mehr.
In jenen Jahren hatten Leo und Carver eine Kindertagesstätte besucht, was Freddy missfiel, doch für eine Nanny war kein Geld da. Sie zogen in eine Dreizimmerwohnung in der East 82nd Street, aber immer noch ohne Aufzug. Freddy verließ das Apartment morgens, ehe die Jungen wach waren, und kam heim, wenn sie schon schliefen. Er nahm ab. Meredith flehte ihn an, zum Mittagessen einen Milchshake zu trinken, sie flehte ihn an, zum Arzt zu gehen, doch für Freddy gab es nur Arbeit und noch mehr Arbeit. Er musste die Firma zum Laufen bringen, Klienten gewinnen. Wie sollte er das anstellen? Er arbeitete auch am Wochenende. Alles blieb an Meredith hängen. Das schaffte sie nicht. Sie konnte nicht zwei kleine Kinder und einen Haushalt versorgen und dreißig Aufsätze zensieren und ihren Unterricht planen. Carver zeigte bereits Anzeichen für eine Angststörung; er schrie und kreischte, wenn Meredith ihn in der Kita absetzte, und er schrie und kreischte, wenn sie ihn dort abholte.
Und dann wurde Meredith wieder schwanger.
Sie wartete in der Wohnung auf Freddy, als er nach Hause kam, und schwenkte ihren Schwangerschaftstest wie einen Zauberstab: ein Zauberstab, der alles enthüllen würde, was an ihrem Leben nicht stimmte. Sie wollte, dass es leichter wurde, sich
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