Inselglück
furchtbar«, sagte sie.
»Furchtbar«, stimmte Connie zu. »Aber das ist doch gut. Wir wollen ja, dass du unscheinbar bist und anonym bleibst. Und wir müssen was wegen deiner Brille unternehmen.«
»Ich liebe meine Brille«, protestierte Meredith. »Die habe ich seit der achten Klasse.«
»Ich weiß. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem du sie bekommen hast. Aber jetzt muss sie weg. Wir wollen schließlich nicht den ganzen Sommer hier im Haus verbringen, und wir wollen nicht, dass du dir Hasstiraden anhören musst, deshalb musst du dich unkenntlich machen. Die Brille ist zu verräterisch. Wenn sich Frauen zu Halloween als Meredith Delinn verkleiden, tragen sie so eine Brille.«
»Werden sie sich denn als Meredith Delinn verkleiden?«
Connie lächelte traurig. »Die Brille muss verschwinden.«
Connie brachte die Brille ins Nantucket Eye Center und bestellte eine mit neuer Fassung. Meredith blieb währenddessen hilflos und blind allein zurück. Nur allzu gern hätte sie sich auf die Terrasse gesetzt, aber das wagte sie nicht, solange Connie weg war. Sie legte sich oben auf ihr Bett, doch ohne Brille konnte sie nicht lesen. Sie starrte auf die verschwommenen rosa Umrisse des Gästezimmers.
In Gedanken war sie in den 1970ern bei ihrem Vater und Toby.
Merediths Eltern waren verblüfft gewesen, als sie ihnen von ihrer Verabredung mit Toby erzählte. Bei Chick Martin mischte sich in seine Überraschung noch etwas anderes. Eifersucht? Besitzgier? Meredith fürchtete, ihr Vater würde genauso reagieren wie Connie. Aber er erhob sich über alle etwaigen Bedenken in Bezug auf Merediths knospende Weiblickeit und übernahm die Rolle des fürsorglichen Vaters. Als Toby an jenem ersten Abend erschien, um Meredith abzuholen, fragte Chick: Schon mal Ärger mit dem Führerschein gehabt?
Nein, Sir, sagte Toby.
Bring Meredith bitte spätestens um elf nach Hause.
Ja, Sir, Mr Martin, sagte Toby.
Chick brauchte ein paar Monate, um sich an Merediths neue Persönlichkeit zu gewöhnen. Nach außen hin war sie wie früher – fleißig, gehorsam, liebevoll zu beiden Eltern, respektvoll, dankbar für alles, was sie ihr ermöglichten – , doch irgendetwas hatte sich verändert. Ihr Vater, vermutete sie, meinte wohl, ihre ganze Aufmerksamkeit gelte jetzt Toby. Dabei war sie eigentlich eher auf sich selbst konzentriert – auf ihren Körper, ihr Empfinden, ihre Sexualität, ihre Fähigkeit, noch jemand anderen zu lieben als ihre Eltern.
Wow! Meredith wusste nicht, wann sie sich jemals so lebendig gefühlt hatte wie in jenem Sommer, bevor sie sechzehn wurde und ihr Verlangen nach Toby in ihr wütete wie ein Feuer. Sie war heiß auf ihn – der gängige Begriff damals. Oft ließen sie das Kino aus und fuhren in den Valley Forge Park und knutschten und fummelten im Auto. Sie fassten sich durch ihre Kleider hindurch an, die dann nach und nach ausgezogen wurden. Und dann kam ein Abend, an dem Meredith nackt war und Toby die Jeans in den Kniekehlen hingen, und Meredith setze sich rittlings auf ihn, und … er bremste sie. Es sei zu früh, sie sei zu jung, sie könnten sich doch Zeit lassen. Meredith brach in Tränen aus – teils aus sexueller Frustration, teils aus Wut und Eifersucht. Toby hatte mit Divinity Michaels geschlafen und mit Ravi aus Bryn Mawr und wahrscheinlich auch mit Mademoiselle Esmé (Meredith war nie mutig genug gewesen, ihn danach zu fragen) – warum also nicht mit ihr?
»Das ist was anderes« , sagte er. »Es ist was Besonderes, und ich möchte es langsam angehen lassen. Ich möchte, dass es von Dauer ist.«
»Außerdem« , fügte er hinzu, »habe ich Angst vor deinem Vater.«
»Angst vor meinem Vater? «, jammerte Meredith.
»Er hat mit mir gesprochen«, gestand Toby. »Er hat gesagt, ich soll dich mit Respekt behandeln, ich soll ein Gentleman sein.«
»Ein Gentleman?« Meredith drückte sich bibbernd an die Beifahrertür. Die Vinylsitze des Nova waren kalt. Sie angelte nach ihrer Unterwäsche. Sie wollte keinen Gentleman. Sie wollte Toby.
Von nun an bemühte sich Meredith, ihren Vater und Toby voneinander fernzuhalten. Aber dann bat Chick Toby, ihm beim Verbrennen des Laubes im Garten zu helfen, und anschließend lud er ihn ein, mit ins Haus zu kommen und zuzuschauen, wie die Notre Dame University das Boston College fertigmachte, und Würstchen im Schlafrock zu essen, die Merediths Mutter mit scharfem braunem Senf servierte. An den Feiertagen wurde Toby zur alljährlichen Weihnachtsparty der Martins
Weitere Kostenlose Bücher