Inselglück
»Er war bei der Army und wurde bei einer Übung versehentlich erschossen. Ein total sinnloser Unfall. Irgendein Arschloch hat zur Unzeit seine Waffe entladen, und mein Bruder war tot.«
»Oh Gott«, sagte Meredith. Sie hatte in den letzten Wochen Dutzende Geschichten über unerwartete Todesfälle gehört und wusste noch nicht so recht, wie sie darauf reagieren sollte. Ihr war klar, dass die Menschen versuchten, damit eine persönliche Verbindung zu ihr herzustellen, aber Meredith fand ein morbides Vergnügen an dem Gedanken, dass ihr eigener Verlust einzigartig war – und viel schlimmer als der aller anderen. Freddys Geschichte jedoch klang sowohl traurig als auch richtig schlimm. Ein Bruder, der zufällig zu Tode kam, während er übte, sein Vaterland zu verteidigen? Der von einem seiner eigenen Leute erschossen wurde? Meredith wollte etwas Angemessenes sagen, aber ihr fiel nichts ein. Sie beschloss, ihm eine Frage zu stellen, die er beantworten konnte. »Wie alt war er?«
»Dreiundzwanzig.«
»So jung! Standet ihr euch nahe?«
Freddy zuckte die Achseln. »Eigentlich nicht. Aber er war, na ja, mein Bruder. «
»Das muss hart gewesen sein«, sagte Meredith und hasste sich dann dafür. Sie klang genau wie Connie oder Gwen Marbury!
Freddy erwiderte nichts, was Meredith ihm nicht verübelte, aber er begleitete sie trotzdem den ganzen Weg bis zur psychologischen Beratungstelle. Sie erwog, einfach abzubiegen, damit er nicht erriet, wohin sie unterwegs war, doch dann befand sie, dass es keine Rolle spielte, ob er es wusste. Sobald sie vor dem Gebäude standen, sagte er: »Ich bin letztes Jahr sehr oft hierhergekommen. Es hat mir geholfen. Hilft es dir?«
»Nein.«
»Es dauert eine Weile.« Freddy sah sie offen an, und erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass er nach ihrer Hand gegriffen hatte, als sie aus dem Unterricht gerufen worden war. Und in diesem Moment erkannte sie Freddy, ähnlich, wie die Jungfrau Maria den Erzengel Gabriel erkannt haben musste; nicht weniger mystisch erschien es ihr. Freddy war plötzlich nicht mehr der coole ältere Student, in den sie verknallt gewesen war, sondern der Mensch, der ihr geschickt worden war, um sie aufzufangen. Und während er sie noch anschaute, dachte Meredith: Ich gehöre dir. Nimm mich.
»Soll ich dich in einer Stunde abholen?«, fragte er.
»Ja«, sagte sie.
Von da an waren sie unzertrennlich gewesen
Viele Jahre lang, bis zum Dezember letzten Jahres, als sie zusammen mit dem Rest der Welt von Freddys Verbrechen erfuhr, hatte Meredith geglaubt, ihr Vater habe ihn ihr geschickt. Noch jetzt verschlug es ihr den Atem, wenn sie an Freddys Verrat dachte. Andere Menschen hatten Geld verloren, sie selbst hingegen das Vertrauen in die Person, die ihr, wie sie angenommen hatte, zu ihrer Rettung gesandt worden war. Er, Freddy Delinn, war Dustin Leavitt, ein Mann, der eine Achtzehnjährige vergewaltigt, die gerade ihren Vater verloren hat. Er war der Mann mit dem Jagdmesser, nicht der Gesandte ihres väterlichen Schutzengels, sondern ein Gesandter des Teufels, gekommen, um ihr Leben zu ruinieren.
Meredith hörte im Flur eine Tür aufgehen.
»Bist du das, Meredith?«, fragte Connie.
»Ja.«
»Alles in Ordnung?«
In Ordnung? Es wäre alles in Ordnung, wenn sie nicht nachdenken, sich nicht erinnern würde. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Connie war da, verschlafen noch schöner als sonst, die langen Haare zerzaust.
»Meredith?«
»Ja«, sagte Meredith und ließ sich von Connie zurück zu ihrem Bett begleiten.
Connie
Connie verbrachte den ganzen Morgen mit dem Versuch, Meredith zu der Bootstour zu überreden. Es war herrliches Wetter – Sonne, blauer Himmel, eine leichte Brise. Schöner als dieser konnten Tage nicht sein.
»Nichts, was du sagst, kann mich umstimmen«, sagte Meredith. »Ich komme nicht mit.«
»Ich will nicht allein mitfahren«, sagte Connie und schaute aufs Meer. »Ich habe Angst.«
»Da, du hast es zugegeben. Fühlst du dich jetzt besser?«
»Nein«, entgegnete Connie. »Ich möchte, dass du mitkommst. Wenn du mitkommst, fühle ich mich besser.«
»Wie willst du wissen, was du für den Mann empfindest, wenn du nie mit ihm allein bist?«
»Ich bin noch nicht bereit dafür, mit ihm allein zu sein.« Connie dachte an den Kuss. Er war wundervoll gewesen, aber das verstärkte ihre Angst irgendwie nur noch. »Ich sage ab.«
»Nein, das tust du nicht.«
»Ich sage ihm, dass wir hier picknicken können, auf der Terrasse. Und dass wir vorn am
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