Inselkönig
den Schnee abzutragen
und die Umgebung um den vermeintlichen Tatort nach Fuß- oder anderen Spuren
abzusuchen. Der strenge Frost dauerte jetzt schon ein paar Tage, und so waren
Abdrücke mit bloßem Auge auf dem gefrorenen Boden bestimmt nicht zu erkennen.
Christoph umrundete den toten Nommensen und schoss
zahlreiche Bilder aus unterschiedlichen Perspektiven mit verschiedenen
Zoomeinstellungen. Er achtete darauf, möglichst viele Details zu erfassen, die
man später in Ruhe auswerten konnte, sei es die Körperhaltung, die Neigung des
Kopfes, die Haltung der auf dem Rücken zusammengebundenen Hände oder die Lage
der herabgelassenen Hosen. Welche Bedeutung mochte es haben, dass man dem Opfer
die Hose sowie die Unterhose bis unter die Kniekehlen herabgezogen hatte?
Christoph seufzte tief und ließ sich dann auf Knien
vor Nommensens leblosem Körper nieder. Vorsichtig hob er Jacke, Pullover, Hemd
und Unterhemd an und begutachtete das Geschlecht des Toten. Er konnte keine
Spuren von Gewaltanwendung feststellen. Und mit bloßem Auge war auch nicht
erkennbar, ob es Spermaspuren gab. Die ungewöhnliche Präsentation des Opfers
hätte die Folge eines Racheaktes sein können. Mit viel Phantasie wäre es
vorstellbar, dass ein zorniger und gehörnter Ehemann Nommensen in flagranti
erwischt und seinem überbordenden Zorn durch diese Tat freien Lauf gelassen hatte.
Diesen Punkt musste die Rechtsmedizin später klären. Christophs Blick wanderte
an den dunkel behaarten Oberschenkeln abwärts. Er konnte nichts entdecken.
Beide Knie des Toten waren blutverkrustet. Die Haut war aufgeplatzt, so als
wäre Nommensen darauf gefallen. Da der Schnee erst am gestrigen Nachmittag
eingesetzt hatte und solche Verletzungen mit Sicherheit nicht von einem Sturz
in das weiche Weiß herrühren konnten, musste sich Nommensen die aufgeschlagenen
Knie vorher eingehandelt haben. Christoph musterte den Toten. Der Mann war von
kräftiger und stattlicher Statur. Er hätte sich bestimmt gewehrt, wenn man
versucht hätte, ihn an den Baum zu binden. Entweder hatte man ihn gezwungen,
oder das Opfer war verletzt gewesen und somit wehrlos.
Christoph umrundete den Mann und besah sich die
Rückseite. Behutsam zog er den Kragen der Jacke ein wenig herab und fuhr mit
den Fingerspitzen über den Hinterkopf. Durch den dünnen Stoff der Mütze war
nichts zu erkennen. Es sah nicht so aus, als sei Nommensen niedergeschlagen
worden. Auch an der Vorderpartie konnte Christoph keine Anzeichen dafür
erkennen. Lediglich die aufgeschlagenen Knie waren sonderbar. Er musterte die
Gelenke erneut und stutzte. Beide Kniescheiben wiesen ungewöhnliche Formen auf.
Es sah aus, als wären sie in mehrere Teile zersprungen, soweit erkennbar, in
drei oder vier. Zwei Teile, die größeren, hatten sich nach oben gedrückt und
zeichneten sich schwach unter der angespannten und zerschundenen Haut ab,
während ein drittes Teil sich seitlich zur Innenseite gedreht hatte. Es hatte
den Anschein, als seien Nommensens Knie gewaltsam zerschmettert worden.
Christoph durchfuhr ein Schauder. Wer übte eine solche
Gewalt aus? Das Opfer musste fürchterliche Schmerzen erlitten haben. Jeder
Unglückliche, dem schon einmal die Kniescheibe herausgesprungen war, wusste,
welche Höllenqualen es bedeutete, bis das Gelenk wieder reponiert war.
Jedenfalls verstand Christoph jetzt, warum Nommensen sich nicht zur Wehr
gesetzt hatte, als man ihn an den Baum band.
Als Christoph den Tatort erneut umrundete, achtete er
darauf, in seiner eigenen Spur zu bleiben. Außer den Spuren der Einschmutzung,
die er schon zuvor registriert hatte, gab es nichts Augenfälliges zu entdecken.
Die Hände waren mit einem Nylonseil gefesselt. Die Knoten schienen solide, aber
eher laienhaft angebracht zu sein. Zumindest deutete nichts auf eine spezielle
Technik wie Seemanns- oder Bergsteigerknoten hin.
Die oberflächliche Tatortuntersuchung ließ Nommensens
Tod immer rätselhafter erscheinen. Es ließ sich durch die Inaugenscheinnahme
nicht erkennen, ob die Schläge auf die Knie nach der Fesselung erfolgt waren
oder vorher. Christoph schätzte Nommensens Gewicht auf neunzig Kilo. Oder mehr.
Wenn der Täter dem Opfer die Knieverletzungen vor der Fesselung zugefügt hatte,
wäre Nommensen zusammengesunken und hätte trotz Androhung von Gewalt nicht mehr
stehen können. Ein Einzeltäter hätte Nommensen bei dessen Gewicht kaum
hochhalten und gleichzeitig dessen Hände hinter dem Rücken fesseln können. Dazu
waren zwei oder eventuell
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