Inselkönig
dieser Aufforderung.
Er war sichtlich froh, nicht nur der Kälte des Einsatzfahrzeuges, sondern auch
der Bergungsaktion entgehen zu können.
»Dann wollen wir mal«, knurrte Thomsen und trat ins
Freie, gefolgt von seinem Kollegen und Christoph, der in seiner nassen Kleidung
die Kälte noch beißender spürte.
Im Gänsemarsch stapften sie durch den Schnee.
Christoph ließ sich eine der Plastiktüten geben, griff vorsichtig nach dem Ast,
von dem er vermutete, dass es die Tatwaffe sein könnte, und der zweite Beamte
trug ihn zum Fahrzeug zurück, während Thomsen die Handfessel durchtrennte und
diese ebenfalls in einen der Tiefkühlbeutel verschwinden ließ.
Christoph hatte sich vor Nommensen gestellt und
versuchte ihn abzufangen, damit der schwere Körper nicht in den Schnee stürzte.
Er stellte erneut fest, dass eine einzelne Person den Mann kaum allein an den
Baum hatte binden können. Außerdem besah er sich noch einmal die Stelle, an der
die Fessel die Rinde frei geschuppert hatte. Nommensen musste trotz seiner
Knieverletzung fürchterlich am Nylonseil gezerrt haben. Davon zeugten auch die
tiefen Einschnitte an seinen Handgelenken. Warum aber hatte er sich zuvor
scheinbar wehrlos an den Baum binden lassen? War das möglicherweise ein
besonders perverses Sexspiel gewesen, bei dem manche Menschen auch auf
sonderbare Spielzeuge wie Fesseln zurückgreifen? Noch etwas war Christoph
aufgefallen. Die Fesseln waren oberhalb eines abzweigenden Astes angebracht worden,
sodass sie das Opfer oben hielten. Der Täter hatte an alles gedacht. Sonst wäre
Nommensen nach den Schlägen auf die Knie zusammengesackt und am Stamm
hinabgerutscht. Langsam vervollständigten sich vor Christophs geistigem Auge
der Ablauf der Tat und das Bild des Täters.
Es musste sich um eine kräftige Person handeln, der es
gelungen war, Nommensen an den Baum zu binden. Oder das Opfer hatte sich
freiwillig dorthin begeben. Danach hatte der Täter dem Opfer kaltblütig und
geplant die Hosen heruntergezogen, den Ast gesucht und zugeschlagen. Es war
sicher auch kein Zufall, dass Nommensen erfroren war.
»Ja, so muss es gewesen sein«, sagte Christoph zu sich
selbst und erntete dafür von Thomsen einen fragenden Blick. Er unterließ es,
den Hauptkommissar an seinen Überlegungen teilhaben zu lassen.
Der zweite Polizist war zurückgekehrt und unterstützte
Christoph beim Halten.
»Was jetzt?«, fragte er gegen den Sturm.
Christoph stülpte Gefrierbeutel über die Hände des
Toten, dann nickte er den beiden Beamten zu.
»Wir tragen die Leiche zum Einsatzfahrzeug. Dort
wickeln wir sie in Packpapier ein und bringen sie ins örtliche Krankenhaus.«
Es war den beiden Beamten von der Inselpolizei
anzumerken, dass es eine ungewohnte Tätigkeit für sie war. Der zweite Beamte
erweckte den Anschein, als würde er den Toten nur mit spitzen Fingern berühren
wollen. Christoph hatte Verständnis für das Zögern. Mit einiger Mühe schafften
sie es, Nommensen zum Polizeibulli zu tragen. Fast wäre Thomsen noch in den
Graben gestürzt, als er beim Passieren des hölzernen Steges abrutschte, sich
aber gerade noch fangen konnte.
»Mensch, Hauke, schmeiß ihn nicht in den Mud. Ich habe
keine Lust, Nommensen da wieder rauszufischen«, unkte der Polizist. Dann schob
er fluchend hinterher: »Scheißwetter.«
Ächzend wickelten sie die Leiche in Papier ein,
platzierten sie, so gut es ging, im Fond des Wagens, koppelten ein
Abschleppseil zwischen dem Radlader und ihrem Fahrzeug und ließen sich durch
den Schnee zurück in die Stadt ziehen.
»Die Leute hatten recht«, stellte Christoph unterwegs
fest, als sie auf freiem Feld mehrere Schneewehen passierten, die sich bis zu
einem halben Meter aufgetürmt hatten. »Ohne geländegängige Fahrzeuge wären wir
nicht durchgekommen.«
»Wir haben solches Wetter nicht oft«, erwiderte Thomsen,
der am Steuer saß, »aber wenn es uns trifft, wissen wir damit umzugehen. Wenn
Sie auf einer Insel leben, müssen Sie sich vielen Dingen stellen, die auf dem
Festland ein Experte für Sie erledigt. Aber – das sagte ich schon einmal.«
Christoph warf dem Hauptkommissar einen Seitenblick
zu. Thomsen hatte recht. Für Christoph war es die ungewöhnlichste
Tatortaufnahme seiner Laufbahn. Dann warf er einen Blick über die Schulter.
»Geht’s?«, fragte er.
Er erntete nur ein Brummen vom zweiten Polizisten, der
bleich auf der Rückbank hockte und höchst widerstrebend den in Papier
eingewickelten Nommensen im Arm hielt.
Der moderne
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