Inselkönig
aufmunternden Blick zu. Dem Mann war die
Erleichterung anzusehen.
»Warum hat es so lange gedauert?«, wandte er sich an
Thomsen.
»Zunächst galt es, einen kompetenten Ansprechpartner
zu finden. Der Chefarzt der Anästhesie war nicht sofort zu sprechen. Dann hat
man sich geweigert, einen Toten aufzunehmen. Kein Krankenhaus ist bereit, einen
Verstorbenen ins Haus zu lassen. Erst als Große Jäger dazugestoßen ist und
drohte, er würde den Leichnam durch sechs uniformierte Polizisten feierlich ins
Haus tragen lassen, akzeptierte man die ungewöhnliche Situation. Jetzt wird
sich vermutlich ein Konsilium zusammenfinden, um gemeinsam über die
Todesursache zu befinden.«
Danach fuhr Thomsen Christoph zu dessen Unterkunft,
damit er sich dort unter die heiße Dusche stellen und warme und trockene
Kleidung anlegen konnte.
DREI
Die Stehlampe neben dem Ecksofa gab ein mildes Licht. Sie
tauchte die beiden Ölschinken, die als Kontrast zur Nordseeinsel Föhr
pittoreske Bergpanoramen zeigten, fast in ein Halbdunkel. Auf dem einen
Schenkel des Sitzmöbels hatte Große Jäger Platz genommen, am anderen Ende saß
Mommsen. Christoph hatte die Beine übereinandergeschlagen und es sich in einem
Sessel bequem gemacht. Er hielt den Kopf leicht geneigt und ließ es zu, dass
Anna, die auf der Lehne hockte, ihm die nassen Haare kraulte. Dabei fiel auch
nicht auf, dass sie Christoph um zehn Zentimeter überragte.
Große Jäger zeigte zum Sprossenfenster der Suite, wie
das Appartement hieß: »Ganz schön heftig, der Schnee.«
Draußen wirbelte der Wind die immer noch unablässig
auf die Erde herabrieselnde weiße Pracht mächtig durcheinander. Mittlerweile
hatte sich der Schnee in jeder sich bietenden Ecke zu größeren Bergen
aufgetürmt.
Große Jäger lehnte sich zurück. »Ich darf wirklich
nicht?«, fragte er und blinzelte sehnsüchtig die zerknautschte
Zigarettenpackung an, die auf dem Couchtisch lag.
»Nein!«, erwiderte Anna mit Entschiedenheit. Dabei sah
sie Christoph an, als würde sie sich von ihm Unterstützung erhoffen. Christoph
nickte ihr zu.
»Wie soll man unter diesen Bedingungen arbeiten
können«, maulte der Oberkommissar. »Gut. Ich versuche es. Der Tod ist aller
Wahrscheinlichkeit nach durch Erfrierungen dritten und vierten Grades
eingetreten. Das bedeutet ein beinahe schmerzfreies Absterben des Gewebes bis
zur Vereisung und völligen Gewebezerstörung durch Kälteeinwirkung. Und wenn man
dem armen Teufel nicht die Kniescheiben zerstört hätte, wäre es vielleicht ein
nahezu schmerzloser Tod gewesen. Der Mörder muss aber ein wahrer Teufel gewesen
sein. Die Körpertemperatur bewegt sich bekanntermaßen bei annähernd konstant
siebenunddreißig Grad. Wird sie herabgekühlt, treten bei Temperaturen unter
achtundzwanzig Grad folgende Symptome auf: Bewusstlosigkeit,
Kreislaufstillstand, verminderte Hirnaktivität, Herzrhythmusstörungen und
schließlich Atemstillstand. Man spricht hier von einer schweren Hypothermie.«
»Das ist aber nicht dein Wissen, das du hier von dir
gibst«, warf Christoph ein.
Große Jäger räusperte sich künstlich. »Sicher.« Dann
zwinkerte er. »Ich habe ein wenig geschummelt und Doktor Diether von der
Rechtsmedizin in Kiel angerufen. Im Übrigen hat der Doktor, der mir in der
Inselklinik assistiert hat, Ähnliches erzählt.«
Christoph lächelte amüsiert. »Dir assistiert?«
Große Jäger winkte ab. »Trink du deinen Tee.« Er
selbst nahm einen Schluck Kaffee. Beides hatte Anna organisiert. Dann wurde der
Oberkommissar wieder ernst. »Wie Christoph vermutet hatte: Der Mord ist
vorsätzlich geschehen. Dabei ist der Täter diabolisch vorgegangen. Wir haben
uns alle schon einmal gewundert über die Bezeichnung der ›gefühlten
Temperatur‹. Oder wir sprechen vom eiskalten und schneidenden Wind. In der Tat
spielen neben der niedrigen Lufttemperatur auch Wasser und die Wirkung des
kalten Winds, des sogenannten Windchills, eine Rolle. Die herabgelassene Hose
hat die Auskühlung des Körpers beschleunigt. Wahrscheinlich hat der Mörder
Nommensen zusätzlich mit Wasser übergossen. Und dann noch der eiskalte Wind,
auf den man sich hier absolut verlassen kann …« Große Jäger vollendete seine
Ausführungen nicht. Er sah Christoph an, der nach seiner heißen Dusche in einen
Bademantel geschlüpft war und sich zusätzlich in eine Decke gehüllt hatte. »Du
musst keine Sorge haben, dass du erfrierst. Dafür wird Anna schon sorgen.« Er
strich sich mit beiden Händen über den
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