Inselkönig
noch
lieben.«
»Es ist wahr, dass die Zeit Wunden heilt. Ganz langsam. Allmählich.«
Christoph stellte sich Wibke Frederiksen vor, wie sie
nervös an ihrer Zigarette zog und dabei gedankenverloren in die Ferne blickte.
»Es klingt so, als würden Sie immer noch Sympathien für ihn empfinden.«
»Ich habe ihn wirklich geliebt. Als ich fortgegangen
bin, hat ihn das tief getroffen. Er war am Boden zerstört. Ingwer hat mich auch
geliebt. Zerstört hat es ihn, als seine Selbstachtung am Boden lag und alle
darauf herumgetrampelt haben. Zuerst hat ihn seine Frau verlassen, dann ist er
als Unternehmer gescheitert. Die Welt akzeptiert keine Verlierer.«
»Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie trotz der
offenbar vorhandenen gegenseitigen Zuneigung Ihren Mann verlassen haben«, sagte
Christoph.
»Das habe ich schon erklärt. Ich habe es nicht länger
ausgehalten!«
»Was haben Sie nicht mehr ertragen können?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich will es nicht!«
»Frau Frederiksen! Ich glaube, Sie haben einen der
Schlüssel zu diesem Mordfall in Ihren Händen.«
Christoph hörte nur ihr Schluchzen. Sonst nichts.
»Bitte! Frau Frederiksen!«
Plötzlich ertönte das Besetztzeichen. Sie hatte
aufgelegt.
Alle weiteren Versuche, die Verbindung erneut
herzustellen, scheiterten.
Große Jäger machte einen ärgerlichen Eindruck. »Warum
enthält uns jeder, mit dem wir sprechen, etwas vor? Wer unsere Protokolle
liest, könnte meinen, die Föhringer seien ein verschlossener und wortkarger Menschenschlag,
der alles unter sich ausmacht und niemanden in seine Geheimnisse blicken lässt.
Dabei trifft das nicht zu. Die Menschen auf der Insel sind aufgeschlossen,
weltgewandt, haben Sinn für einen feinen Humor und sind wie überall in
Nordfriesland ausgesprochen freundlich.« Er kniff die Augen zusammen und sah
Christoph an. »Das trifft auf dich nicht zu. Du bist ja auch kein Nordfriese.«
»Die Sache mit der Freundlichkeit – du bist die
berühmte Ausnahme, die deine These bestätigt. Zurück zu unserem Fall. Von
Ingwer Frederiksen haben wir nichts in Erfahrung bringen können, weder was sein
berufliches Scheitern anbetrifft noch warum ihn seine Frau verlassen hat.
Wiebke Frederiksen hat eine glaubhafte Version erzählt, warum ihr Mann in die
Insolvenz gegangen ist. Der gemeinsame Sohn hat es mit anderen Worten
bestätigt. Er hat gesagt, die Probleme seien hausgemacht gewesen. Offenbar
scheint Thies Nommensen in diesem Fall nicht beteiligt zu sein.«
»Und wenn … Hmh!« Große Jäger hielt mitten im Satz
inne. Gedankenverloren spielte er mit der zerknautschten Zigarettenpackung. Nur
Christophs Kopfschütteln hielt ihn davon ab, zu rauchen. »Und wenn«, begann er
von Neuem, »Wiebke Frederiksen das Opfer der Vergewaltigung war? Es wäre nicht
das erste Mal, dass eine intakte Beziehung daran scheitert. Frederiksen wollte
seine Frau behalten, sie zurückholen. Aber Frau Frederiksen konnte nicht mehr.
Sie ist regelrecht geflüchtet. Was hat sie uns außerdem gesagt?« Er sah
Christoph fragend an, als wolle er dessen Aufmerksamkeit prüfen.
»Sie trifft sich gelegentlich mit einem Mann aus
Gelnhausen und hat gute Gespräche mit ihm. Wie eine Beziehung hört sich das
nicht an.«
»Du scheust dich, das Kind beim Namen zu nennen: Wiebke Frederiksen hat von Männern die Nase gestrichen voll. Ich kann das gut
nachempfinden. Ich auch.«
»Seit wann?«, fragte Christoph mit einem
hintergründigen Lächeln.
»Och – eigentlich seit meiner Geburt. Das ist das
Stichwort. Es könnte natürlich auch der Schock sein, der Frau Frederiksen
überwältigt hat. Wenn sie miterleben musste, wie ihre Schwiegertochter Opfer
des eigenen Vaters geworden ist.«
»Der kleine Oluf, der Enkel von Frederiksen und Telse
Nommensen, ist fünf. Beide Konstellationen könnten zeitlich passen. Es ist
vielleicht eine Zeitspanne vergangen, bis die Tat ruchbar wurde, bis Bente
Frederiksen sich jemandem anvertraut hat. Oder ihr Ehemann hat es seinen Eltern
gebeichtet, dass das Kind gar nicht von ihm ist.«
»Wir haben von Thies Nommensen bisher gehört, dass er
ein ebenso erfolgreicher wie knallharter Geschäftsmann war. Warum finanzierte
er Bengt Frederiksen das Studium, ohne hinterher selbst Nutzen daraus zu
ziehen, indem er ihn zu seinem Nachfolger oder zumindest Assistenten aufbaut?
Hatte Nommensen eventuell doch Schuldgefühle? Wollte er damit etwas gutmachen?
Wir haben schon einen großen Teil des Puzzles zusammengesetzt. Nur sind es noch
größere
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