Inseln im Wind
Du bist hier nicht mehr sicher. Du musst fort.«
» Und wohin?«
» Geh zu den Höhlen«, sagte er. » Da findet dich keiner.«
Bei einem seiner Erkundungsgänge hatte Edmond den verborgenen Eingang zu einer weitverzweigten Höhlenlandschaft entdeckt, ein unerforschtes Labyrinth tief unter der Erde, bestehend aus vielen Grotten und Felsenkammern. Den anderen hatte er nichts davon erzählt, denn er hatte die Höhlen zu seinem geheimsten Refugium erkoren. Er wollte diesen Ort offenbar nicht entweihen, indem er ihn mit dem Mordgesindel teilte, das seit Wochen bei ihnen auf dem Hügel kampierte. Deirdre war zweimal mit ihm in der Höhle gewesen und hatte sich dort von seiner Begeisterung anstecken lassen. Tatsächlich herrschte dort eine feierliche Stimmung, mit den steinernen Zacken, die aus der Decke und dem Boden wuchsen, sowie den von unterirdischen Flüssen ausgewaschenen Felswänden. Diese zerklüfteten Grotten, die durch fließendes Wasser miteinander verbunden waren und bis tief unter die Hügel reichten, erschienen Deirdre wie Überlieferungen aus uralter Zeit. Sie stellte sich gern vor, dass früher dort mythische Gestalten gelebt hatten, Feen vielleicht und Zauberer, die sich vor dem Bösen der Welt auf diese Insel geflüchtet hatten, als es hier noch keine Menschen gab. Mittlerweile waren diese magischen Wesen weitergezogen, erneut vor dem Bösen fliehend, immer in der Hoffnung, einen Ort zu finden, an dem niemand ihre friedliche Ruhe störte. Deirdre seufzte.
» Was ist?«, wollte Edmond wissen.
Sie hob die Schultern.
» Was soll ich allein in den Höhlen? Ohne dich würde ich mich dort fürchten.«
Das war dreist geflunkert, und ein wenig ängstlich blickte sie unter gesenkten Lidern zu ihm auf, doch er schien es gar nicht zu bemerken. Ratlos runzelte er die Stirn, ging mit großen Schritten hin und her und verschränkte die Hände auf dem Rücken, wie er es oft tat, wenn er angespannt oder besorgt war.
» Ich könnte mitgehen«, überlegte er.
» Das solltest du unbedingt«, stimmte sie zu.
Der Wind hatte erneut an Stärke zugenommen, mittlerweile hörte man ihn über dem Dach des Dschungels heulen. Hier unten, in den tieferen Schichten dieses üppig wuchernden Grüns, kam er nur als rauschender Luftzug an, der jedoch stark genug war, die Farne hochzuwirbeln und die baumelnden Lianen und Mooszipfel auf- und niederzupeitschen. Irgendwo oben in den Wipfeln ertönte das verschreckte Kreischen von Affen. Die Abenddämmerung hatte sich nahezu vollständig herabgesenkt, in wenigen Minuten würde es dunkel werden. Sie mussten zum Lager zurück, wenn sie sich nicht bei Finsternis durch das Buschwerk kämpfen wollten. Der Wind riss an ihrem Haar, wehte es ihr vors Gesicht. Ungeduldig strich sie die Strähnen zur Seite.
» Es wird heute Nacht einen Sturm geben. Dann sind wir sowieso besser in der Höhle aufgehoben als hier draußen.«
Edmond nickte.
» Die Schwarzen haben es schon gestern gesagt. Seltsam, wie sie manche Dinge schon ahnen, bevor sie eintreffen.«
» Der alte Zauberer, den sie bei sich haben – dieser Abass –, er hat es ihnen erzählt. Er hat das Zweite Gesicht. Noch besser kann er die Dinge voraussehen, wenn er ein Tier opfert und das Orakel beschwört, dann leihen ihre Götter einem Menschen ihre Stimme. Sie nennen es Wodu oder so ähnlich.«
» Deirdre, so etwas gibt es nicht. Das ist alles nur närrischer Hokuspokus.«
» Ich sag ja nicht, dass ich dran glaube.«
» Wo hast du denn diesen ganzen Unsinn gehört?«
» Celia hat’s mir so erzählt. Die Götter der Yoruba haben schon öfter durch sie gesprochen. Einer von denen heißt Ogoun. Gestern Abend haben sie wieder eine Beschwörung veranstaltet. Ogoun hat ihr befohlen, nach Summer Hill zu gehen.«
» Dieser angebliche Gott?«, erkundigte sich Edmond entgeistert.
Deirdre hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.
» Sie glauben nun mal an diese Dinge. Für sie ist das so wie für uns das Beten!«
» Das ist Blasphemie«, rügte Edmond sie. Zu ihrer Erleichterung ritt er nicht länger darauf herum. » Ist Celia deshalb schon den ganzen Tag fort?«
Deirdre nickte.
» Akin hat Dapo mitgeschickt, damit sie nicht ohne Schutz ist.« Sie überlegte, ob sie Edmond erzählen sollte, dass der große Yoruba die Mulattin mehr liebte als sein Leben, aber dann entschied sie, es lieber für sich zu behalten. Edmond musste nicht unbedingt alles wissen, vor allem nicht Dinge, für die er wenig Verständnis aufbrachte.
» Hat
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