Inselsommer
weiter auf den Inhalt seines Briefes einzugehen, mein Einverständnis gegeben, dass Benjamin bei ihm einzog, auch wenn die Wohnung offiziell immer noch uns beiden gehörte. Aber ich konnte mich gut in die Lage des Jungen hineinversetzen. Wie furchtbar, all die Jahre nicht zu wissen, wer der eigene Vater war. Patrick und Benjamin hätten so viel Zeit miteinander verbringen können! Jetzt zumindest hatten die beiden eine Chance, etwas davon nachzuholen. Patrick hatte sich für meine E-Mail bedankt, wenn auch nur mit knappen Worten. Die späte Erkenntnis, was in unserer Ehe schiefgelaufen war, lastete schwer auf uns, und scheinbar wussten wir beide nicht, wie wir damit umgehen sollten.
»Dieser Masseur sieht ja heiß aus. Tolle Hände«, hörte ich Doro schmachten und wurde wieder schlagartig in die Realität zurückkatapultiert.
»Ich muss dich enttäuschen, meine Liebe, falls du gehofft hast, dass bei mir im Urlaub irgendwas gelaufen ist«, grinste Helen und schenkte uns Wasser nach. »Die Franzosen flirten zwar gern und häufig, aber spätestens nach dem dritten Mal bekommt man unweigerlich das Gefühl, dass das alles nur Show ist – und damit total langweilig, weil reizlos.«
Doro zog spielerisch einen Flunsch und drehte sich hoffnungsvoll in meine Richtung:
»Und was ist mit dir und diesem Piloten? Du hast am Telefon gesagt, dass er nach der Lesung mit euch essen gegangen ist.«
Ich schmunzelte. Doro, die hoffnungslose Romantikerin, konnte es einfach nicht lassen.
»Und das war’s dann aber schon. Punkt! Sagt mal, kommt ihr eigentlich morgen Abend zur Vernissage?«
Helen und Doro nickten.
»Hast du denn Vincent vorhin gesehen?«, fragte Helen. Ich hatte den ganzen Nachmittag in der Galerie verbracht, um mit meinen Mitarbeitern die letzten Details für die Ausstellung zu besprechen.
»Ja, er war da. Und wisst ihr was? Es hat mir kaum etwas ausgemacht. Noch nicht einmal, als er gefragt hat, ob er für morgen Abend eine Redakteurin einladen darf, die ihm offenbar sehr wichtig zu sein scheint.«
»Hm, das klingt ja, als hättest du der Männerwelt bis auf weiteres abgeschworen«, bemerkte Helen. »Was momentan aber auch angebracht ist. Wenn du das Projekt mit der Kinderbetreuung wirklich durchziehen willst, wirst du all deine Energie brauchen. Da stören die Kerle doch nur. Ich finde dein Vorhaben übrigens großartig. Immerhin weiß ich durch meinen Beruf sehr gut, wie leicht Kids heutzutage abdriften, wenn man sich nicht um sie kümmert und sie an bestimmte Dinge heranführt. Außerdem habe ich dir früher schon immer gesagt, dass du eine tolle Lehrerin geworden wärst. Du wirst das bestimmt super machen.«
Doro nickte heftig.
»Ich finde den Namen
Inselkrabben
auch richtig knuffig. Steht die Finanzierung denn schon? Ich könnte dir übrigens mit dem Bürokram helfen, wenn du magst, denn in so was bin ich ein echtes Ass!«
Der Gedanke an das leidige Thema Geld trübte meine Laune sofort wieder. Als ich heute Nachmittag bei ArtFuture gewesen war, hatte ich ernsthaft überlegt, doch an Jule zu verkaufen und den Erlös in das Kinderprojekt zu investieren, trotz aller Einwände von Larissa. Doch ich wusste natürlich, dass so eine Entscheidung wohl überdacht sein musste.
Vermutlich hatte Jule auch nicht genug Geld, um die Galerie zu kaufen. Und ich wollte wiederum keinen Käufer über eine Annonce suchen, von dem ich mir nicht sicher sein konnte, dass er die Arbeit in meinem Sinne fortführte. Denn meine Galerie stand für Innovation und Qualität, und das sollte auch in Zukunft so bleiben.
»Weiß Patrick eigentlich von deiner Idee?« Helen schaute mich fragend an. Ich beschloss, dass dies der richtige Moment war, um Helen und Doro von Patricks Brief und seiner
Entschuldigung
zu erzählen. Als ich geendet hatte, war es eine Zeitlang mucksmäuschenstill. Ich hörte Autos auf der Straße vorbeifahren, das Klackern von Absätzen im Hausflur – und das Pochen meines aufgewühlten Herzens.
»Oh, mein Gott, warum musste das so traurig enden«, sagte Doro, der Tränen in den Augen standen, und auch Helen blickte betreten drein.
»Und wie … wie geht’s dir jetzt damit?«
Tja, was sollte ich antworten?
Trotz meines neuen Lebens auf Sylt und meinen Zukunftsplänen saß der Schmerz über den Verlust sehr tief und holte mich immer wieder ein. Doch wie Patrick versuchte auch ich nach vorne zu schauen. Und morgen stand erst einmal die Vernissage an, für die ich fit sein musste. Keine Zeit für
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