Inselsommer
später hatte ich erneut das Gefühl, mir würde der Schädel platzen, doch ich war beruhigt: Die Küche des Büchernests zu führen schien einfacher als gedacht und erforderte vor allem eins: Übung und ein bisschen Nervenstärke. Alles andere würde sich schon finden.
»Morgen stellt sich übrigens ein junger Mann namens Olli vor«, eröffnete Bea mir, als ich nach Hause kam. »Er hat sich zwar auf die Annonce als Nachfolger von Vero gemeldet, aber vielleicht hat er ja Lust, dich zu unterstützen. Wenn er uns gefällt und wir ihm auch, bekommst du Verstärkung in der Küche und im Service. Na, wie findest du das?«
Ich brauche jede Hilfe, die ich bekommen kann,
dachte ich schläfrig und verschwand kurze Zeit später in meinem Zimmer.
30 . Kapitel
A m Montag näherte sich der Zug langsam dem Bahnhof Altona, und ich betrachtete die Altbauten am Rand der Gleise und die Bahnhofskulisse mit gemischten Gefühlen. Diesmal fuhr ich nach Hamburg, um einen Großteil meiner Sachen für Sylt zusammenzupacken, was etwas Endgültiges hatte.
Gut, dass Doro und Helen mich abholten.
»Hallo«, rief Doro in einer solchen Lautstärke, dass sich außer mir einige Passanten umdrehten. Doro fiel nicht nur wegen ihrer hohen Tonlage auf, sondern auch wegen ihres pinkfarbenen Outfits, das ich bislang noch nicht an ihr gesehen hatte.
»Ganz schön bunt, unsere Süße, nicht wahr?«, lachte Helen und deutete auf Doros kurzen Rock, der ihre hübschen Beine wunderbar zur Geltung brachte. Lange her, dass ich sie in etwas anderem als Hosen gesehen hatte.
»Bunt, aber traumhaft sexy«, antwortete ich und umarmte die beiden, die dicht nebeneinander am Bahnsteig standen. »Mann, habe ich euch vermisst! Könnt ihr nicht einfach mit nach Sylt kommen?«
»Nichts lieber als das«, antwortete Doro lachend, und sie und Helen hakten sich bei mir unter. Wir gingen Richtung Ausgang, wo Helen ihr lackschwarzes Cabriolet verbotenerweise mit Warnblinkanlage am Taxi-Stand abgestellt hatte. Kaum hatte sie den Kofferraum geöffnet, hagelte es auch schon wüste Beschimpfungen: Drei erboste Taxifahrer hielten Helen vor, wie viel Glück sie gehabt habe, dass sie noch nicht die Polizei gerufen hätten.
»Macht euch locker, Jungs, und atmet tief durch«, konterte Helen unbeeindruckt und ließ das Schloss des Kofferraums aufschnappen, damit ich meinen Trolley hineinlegen konnte. »Ihr hättet mich nur anrufen müssen, und ich wäre in zwei Sekunden hier gewesen. Wo also ist euer Problem?« Sie deutete auf den Zettel mit ihrer Handynummer, den sie gut sichtbar hinter die Windschutzscheibe gelegt hatte.
Ich unterdrückte ein Grinsen, weil ihre lässige Art (und vermutlich auch ihr Aussehen) die wütenden Fahrer innerhalb kürzester Zeit zum Schweigen gebracht hatten. Helen öffnete die Autotür und bedeutete uns einzusteigen. »So, Mädels, dann wollen wir mal«, sagte sie in aller Seelenruhe und winkte dem Fahrer-Trio fröhlich zu, während sie ausparkte.
»Wohin geht es denn?«, fragte ich gespannt. Doro und Helen hatten ein großes Geheimnis darum gemacht, wo wir meine
Umsiedelung
nach Sylt feiern würden, bevor ich morgen Vormittag meine Koffer packen würde.
Meine beiden Freundinnen quasselten während der Fahrt unaufhörlich, wohingegen ich damit beschäftigt war, mir noch einmal die Stadt anzuschauen, in der ich so lange gelebt hatte und glücklich gewesen war.
Als der Hafen und die Landungsbrücken in Sicht kamen, überfiel mich erneut das altbekannte Gefühl von Melancholie und Trauer. Hier hatten Patrick und ich zahllose glückliche Stunden verbracht, waren Hand in Hand am Hafen entlangspaziert, hatten im quirligen Portugiesen-Viertel zu Abend gegessen oder waren zu Veranstaltungen auf dem Feuerschiff oder der Rickmer Rickmers gegangen. Hier hatten wir mit Freunden, die uns besuchten, unzählige Hafenrundfahrten gemacht oder typische Touristen-Souvenirs wie Plüschrobben oder Becher mit unseren Namen drauf gekauft. Patrick war die englische Form von Patricius, was so viel wie
Der Edle
bedeutete, und Paula stand für die weibliche Form von Paul, was wiederum übersetzt
Der Kleine
hieß. Wir hatten unzählige Witze über die Bedeutung unserer Namen gemacht und uns schließlich noch ein Buddelschiff zugelegt, das später die Fensterbank im Wohnzimmer zierte.
Wie konnte es nur passieren, dass eine so große Liebe im Laufe der Zeit Risse bekam und irgendwann endete?
Als Helen Richtung Speicherstadt in die HafenCity abbog, wurde ich neugierig, und
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