Inselzauber
sie sich.
Da sowieso schon alle Schleusen offen sind, berichte ich ihr von meinem Streit mit Nele. Meine Kollegin ist einen Moment lang still, als müsste sie erst meine Worte verinnerlichen, und zupft mir dann ein Stück Toilettenpapier aus dem Haar.
»Tja, das ist in der Tat eine unglückliche Situation«, sagt sie. »Aus Ihrer Sicht haben Sie natürlich das Richtige getan, weil Sie Ihrer Freundin eine Freude machen wollten. Aber es handelt sich dabei nicht um eine spontane Einladung zum Essen oder ins Kino, sondern Sie haben etwas an die Öffentlichkeit gebracht, was für Frau Sievers sehr persönlich und intim ist, noch dazu ohne ihre Zustimmung. Das ist ein bisschen so, als hätte Nele Briefe, die Sie ihr geschrieben haben, zur Veröffentlichung gebracht, weil sie aus ihrer Sicht so schön geschrieben sind. Hätte sie jemals geplant, das Buch verlegen zu lassen, hätte sie sicherlich etwas in dieser Richtung unternommen, zumal Bea ihr gute Kontakte vermitteln könnte, meinen Sie nicht? Nicht alle Künstler wollen ihre Werke auch präsentiert sehen. Manche malen, schreiben oder komponieren in erster Linie für sich selbst. Es gibt Maler, die ihre Arbeiten wieder zurückkaufen, weil sie den Gedanken nicht ertragen können, dass ihr Bild im Wohnzimmer einer ihnen völlig fremden Person hängt und dort viel über sie selbst erzählt. Und zwar einem Publikum, das der Künstler nicht selbst für sich gewählt hat.«
Erschöpft vom vielen Weinen, lausche ich Birgit Stades Worten, die immer mehr Nachhall in mir finden. Langsam begreife ich und schäme mich fast für das, was ich getan habe. »Wie soll ich das denn je wiedergutmachen?«, frage ich ängstlich und habe keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen soll. Ob Nele eine Entschuldigung akzeptiert? So kompromisslos, wie meine Freundin ist?
»Nun machen Sie sich mal keine Gedanken, und versuchen Sie sich ein wenig abzulenken. Lassen Sie Nele ein wenig Zeit. Sie werden sehen, dass sie, nachdem der erste Ärger verraucht ist, erkennen wird, dass Sie ihr im Grunde etwas Gutes tun wollten. Vielleicht geben Sie ihr diesen Tag und eine Nacht und sehen morgen noch mal bei ihr vorbei. So gut, wie Sie beide sich verstehen, werden Sie sich bestimmt bald wieder vertragen. Nun kommen Sie, unten ist niemand, und ich könnte wetten, es warten schon ein paar Kunden vor dem Kopierer!«
Nanu, denke ich verwundert, während wieder ein wenig Optimismus in mir aufkeimt. Kann es sein, dass ich soeben einen Hauch von Kritik aus dem Munde der ersten Sortimenterin vernommen habe?
Bis Ladenschluss vergeht die Zeit einigermaßen schnell, und als wir die Bücherkoje abschließen, stellen wir zu unserem Entsetzen fest, dass es wieder begonnen hat zu schneien.
O nein, denke ich, nicht schon wieder! Mit Schaudern erinnere ich mich an die sich auftürmenden Eisschollen, bizarren Skulpturen ähnlich, die den Strand im Januar in eine Art Eismuseum verwandelt haben. Die Hagelkörner auf dem Boden sahen aus wie eine Perlenkette, deren Faden gerissen war und deren Einzelteile nun über den Strand verstreut lagen. Autos waren unter der Schneedecke begraben, wirkten wie kleine Iglus, und Kinder bewarfen sich gegenseitig mit Schneebällen, bis ihre Lippen vor Kälte blau anliefen und ihre Ohren glühend rot waren.
» ICH WILL FRÜHLING !«, schimpfe ich vor mich hin, nachdem Birgit Stade sich verabschiedet hat und ich mit Timo den Heimweg antrete.
»Hier ist er auch schon!«, erklingt auf einmal eine fröhliche Stimme neben mir, und ich drehe mich um. Es ist Nele, die mich anstrahlt und mir ein Eis am Stiel entgegenhält. »Hier, Schokolade, das magst du doch am liebsten, nicht?«
Für einen Moment weiß ich nicht, wie ich reagieren soll, so überrascht bin ich, dass Nele offensichtlich bereit ist, mir zu verzeihen. Zumindest werte ich das Eis als Friedensangebot und lächle zurück.
Zwei Tage später fahren meine Freundin und ich mit der Nord-Ostsee-Bahn nach Hamburg. Nele hat ein Schild mit den Worten »Wegen Krankheit geschlossen« an die Tür des Möwennests gehängt, und nun sitzen wir beide todmüde im Zug und nehmen Kurs auf den Hindenburgdamm.
»Wusstest du, dass der Damm 1927 eingeweiht wurde und 11,2 Kilometer lang ist?«, versuche ich Nele durch mein Sylt-Wissen davon abzuhalten, wieder einzuschlummern.
»Ja, wusste ich«, antwortet sie nur knapp, stöpselt sich die Kopfhörer ihres iPods ins Ohr und gibt mir damit zu verstehen, dass sie ihre Ruhe haben will.
Mir soll es recht
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