Inselzauber
persönliches und geistiges Eigentum, das ich dir lediglich zu Lektürezwecken geliehen hatte, öffentlich gemacht? Bist du eigentlich noch ganz bei Trost?«, schreit sie.
Ich bin kurz geneigt, sie für geistesgestört erklären zu lassen. »Was ist daran so falsch?«, stottere ich verdutzt. »Ich habe es doch nur gut gemeint. Ich wollte dir helfen und dachte, du freust dich.«
»Aha, da haben wir’s! Da ist in der guten alten Lissy mal wieder das Helfersyndrom ausgebrochen. Du findest dich wahrscheinlich auch noch ganz toll mit dieser Aktion, oder? Weißt du was? Dein ewiges Ach-Nele-du-tust-mir-ja-so-leid-mit-all-deinen-Problemen-kann-ich-dir-irgendwie-helfen?-Getue geht mir unglaublich auf die Nerven. Was mich betrifft, so bin ich bislang auch ganz gut ohne dich klargekommen. Ich brauche keinen Babysitter, kapiert? Ruf gefälligst bei diesem Sterntaler-Verlag an, und sag ihnen, dass ich kein Interesse daran habe, für irgend so ein Kinderbuch zu pinseln und dass sie sich einen anderen Dummen suchen sollen, ist das klar?«
»Der Verlag heißt Sternenreiter«, murre ich, während ich mit hochrotem Kopf den sprichwörtlichen Rückzug aus der Küche antrete, vorbei an den Mittagsgästen, die auf Nele warten und offensichtlich jedes Wort unserer Auseinandersetzung mit angehört haben.
In der Bücherkoje angekommen, stürme ich an Birgit Stade vorbei die Treppen nach oben, wo sich die Toilette befindet, schließe mich ein und beginne hemmungslos zu weinen. Ich bin derart entsetzt von der Reaktion meiner Freundin, dass ich gar nicht weiß. wohin mit mir. Wie kann sie etwas, was ich nur gut gemeint habe, so falsch verstehen? Während ich weiter grüble und schluchze, bekomme ich auf einmal Angst, dass Nele nun nicht nur sauer auf mich ist, sondern mir womöglich sogar die Freundschaft aufkündigt.
Schließlich musste ich ihren Worten entnehmen, dass sie offensichtlich schon länger ein Problem damit hat, dass ich mich mit ihren Schwierigkeiten beschäftige. Warum nur hat sie bislang noch nichts gesagt? Außerdem dachte ich immer, Freunde seien dafür da, einander zu helfen. Zumindest ist es DAS , was ich unter dem Begriff Freundschaft verstehe. Mit den Minuten steigere ich mich immer mehr in mein Selbstmitleid hinein und stelle dabei fest, wie wichtig diese Frau mir in den vergangenen zwei Monaten geworden ist. Ich hatte noch nie jemanden, mit dem ich so viel lachen, mit dem ich so gut reden und mit dem ich so viel Zeit verbringen kann, ohne dass ich genervt bin oder es langweilig wird.
Mit Nele ist meine Welt auf einmal bunter geworden, heller und spannender. Mit ihrer seltsamen Sicht auf die Dinge hat sie mich angeregt, vieles differenzierter zu sehen. Auch mal mutiger zu sein, Fragen zu stellen. Sie hat mich in ihren Armen gewiegt, als ich von Beas Krankheit erfahren habe, sie hat mir den Einstieg hier auf der Insel erleichtert, mit ihr konnte ich meinen Kummer um Stefan vergessen. Dafür wollte ich mich bei ihr bedanken. Mich ein wenig revanchieren für die Zuneigung, die sie mir entgegengebracht hat. Das alles soll ich nun zerstört haben?
Bei dieser Vorstellung schüttelt es mich erneut, und ich habe das Gefühl, dass ich nie wieder werde aufhören können zu weinen.
Während ich mir mit dem Toilettenpapier die Nase putze, vernehme ich auf einmal die Stimme von Birgit Stade, die meinen Namen ruft und ganz offensichtlich auf der Suche nach mir ist. Schnell tupfe ich die verschmierte Wimperntusche, die mir mittlerweile überallhin gelaufen ist, aus dem Gesicht und fahre mir durch die Haare, die kreuz und quer in alle Himmelsrichtungen abstehen.
»Frau Wagner, sind Sie hier drin?«, höre ich die Stimme meiner Kollegin, die nun die Tür zum Toilettenvorraum öffnet.
»Ich komme gleich«, antworte ich und schließe auf.
»Haben Sie geweint?«, erkundigt sich Frau Stade, als sie sieht, in welchem Zustand ich bin. »Was ist denn passiert? Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Haben Sie schlechte Nachrichten von Ihrer Tante?«, fragt sie ängstlich, und ich breche erneut in Tränen aus.
»Nein, mit Bea ist alles in Ordnung. Es ist etwas Persönliches. Bitte lassen Sie mich einfach, Sie können mir sowieso nicht helfen«, schluchze ich und versuche mich an ihr vorbei zum Ausgang zu drängen.
»Halt, hiergeblieben! In diesem Zustand lasse ich Sie nicht auf unsere Kunden los«, protestiert Birgit Stade und drückt mich, ehe ich es mich versehe, an sich. »Wollen Sie mir nicht erzählen, was passiert ist?«, erkundigt
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