Inselzauber
hinterfragen oder zu kommentieren.
Wenige Minuten später stehen wir in der Umkleidekabine. Paula trägt einen niedlichen dunkelblauen Badeanzug mit gelben Sternchen und hat ihre langen blonden Haare zu Zöpfen geflochten. Für einen Moment hadere ich mit dem Anblick meines winterblassen Körpers und meines nicht ganz so tollen Bikinis (Nele hätte mich so niemals gehen lassen), beschließe dann aber, dass es hier nicht darum geht, mich zur Schau zu stellen, sondern dafür zu sorgen, dass Paula ein wenig Spaß hat.
»Fertig?«, fragt Leon und mustert uns beide, als wir aus der Damenumkleide kommen. »Schöner Badeanzug«, lobt er Paulas Outfit, die daraufhin zum ersten Mal seit Tagen lächelt.
Mein Aufzug bleibt zum Glück unkommentiert, doch ich habe ausgiebig Gelegenheit, Leons Körper einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Obwohl er in seinem Parka und seinen Hemden, die er gern über der Hose trägt, schlaksig wirkt, ist er eigentlich ganz gut in Form. Attraktiv, denke ich, während ich den beiden zum Erlebnisbereich folge. Wir sehen fast aus wie eine richtige Familie, schießt es mir durch den Kopf, als ich uns betrachte, wie wir in scheinbar trauter Dreisamkeit schwimmen gehen.
Der Nachmittag verfliegt entgegen meinen Erwartungen im Nu, und als wir bei McDonald’s am Tresen stehen und auf unser Essen warten, stelle ich fest, dass es sogar richtig Spaß gemacht hat, mit Paula zusammen zu sein. Das Wasser ist ihr Element, ebenso wie Leons. Die beiden hatten binnen Sekunden einen guten Draht zueinander und waren nicht mehr zu bremsen. Ich dagegen habe zunächst eine Weile fröstelnd am Beckenrand herumgestanden und musste bei Paulas Anblick an meine ersten Schwimmversuche denken.
Mein Vater hatte im Wasser gestanden, beide Arme parallel ausgestreckt, und ich lag bäuchlings auf ihnen, wie ein steifes Brett. Ich hatte immer Angst vor Wasser gehabt und war nur zusammen mit meinen Eltern dazu zu bewegen, ins Schwimmbecken oder später ins Meer zu gehen. Beruhigt von dem Gedanken, dass mein Vater mich hielt, begann ich, mit den Armen und Beinen zu rudern. Behutsam, Schritt für Schritt, ließ mein Vater mich dann immer tiefer ins Wasser gleiten, und schließlich, als ich mich sicher fühlte, zog er die Arme unter meinem Bauch weg. Dann klappte es plötzlich von ganz allein – ich blieb an der Wasseroberfläche und ging nicht unter.
Wer wohl Paula das Schwimmen beigebracht hat?, überlegte ich, während ich Leon und sie dabei beobachtete, wie sie sich gegenseitig nass spritzten, wie das Mädchen auf Leons Rücken saß, während er prustend versuchte, sich über Wasser zu halten, oder wie sie beide einen Sprung vom Dreimeterbrett wagten.
»Und? Schmeckt es?«, fragt Leon, als wir am Tisch sitzen und jede Menge Fast Food vor uns stehen haben. Burger, Pommes frites, Chicken McNuggets, einen Milchshake – das volle Programm!
»Mhhm«, antworten Paula und ich synchron, und zum ersten Mal lacht das Mädchen mich an. Ich bin derart überrascht und gerührt, dass ich mich fast an meinem Cheeseburger verschlucke.
Leons Blick wandert amüsiert von Paula zu mir. Ich bin froh, dass er offensichtlich nicht mehr beleidigt ist, denn ich finde es unerträglich, wenn Unfrieden zwischen uns herrscht.
»Dann brauchst du ja heute kein Abendessen mehr«, sagt er zu Paula, die versunken mit einem Spielzeug aus der Junior-Tüte spielt, während sie mit den kleinen, fettigen Fingern der anderen Hand in der Pommes-frites-Tüte nach Resten sucht.
»Hier, kannst meine noch haben«, sage ich und ernte wieder ein Lächeln. Ich bin derart berauscht von diesem plötzlichen Stimmungsumschwung, dass ich Paula am liebsten auf der Stelle adoptieren möchte. Wie hübsch ihr kleines Gesicht auf einmal ist, wenn sie nicht die Stirn runzelt oder ihre Umgebung böse mustert.
»War es schön?«, fragt Tanja, als wir ihre Tochter später glücklich, müde und satt bei ihr im Restaurant abliefern. »Darf ich Sie zum Dank auf einen Wein einladen?«, fügt sie dann noch hinzu, und als Leon nickt, nehmen wir an einem Fenstertisch Platz.
Von dort aus haben wir einen schönen Blick auf den Strand, an dem sich die letzten Abendspaziergänger tummeln. Hier ist es natürlich nicht so idyllisch wie in Kampen oder in Rantum, aber der Blick aufs Meer ist eigentlich immer schön, egal, wo man ist. Wir bestellen einen halben Liter Merlot und beobachten, wie Paula an einem Tisch nahe der Küche sitzt und malt, während sie darauf wartet, dass ihre
Weitere Kostenlose Bücher