Inselzauber
dass ich das Gefühl habe, es wäre besser für mich, wenn ich mir ein neues Leben jenseits irgendwelcher familiärer und beruflicher Fangnetze aufbaue. Ich habe das Hotelfach gelernt und diesen Beruf ergriffen, weil ich etwas von der Welt sehen wollte.«
An dieser Stelle halte ich inne und denke an den Moment, an dem ich diese Entscheidung getroffen habe. Ich war mal wieder mit Timo spazieren und habe am tiefblauen Himmel den Kondensstreifen eines Flugzeugs gesehen, den die Maschine wie eine Spur aus Schlagsahne hinter sich hergezogen hat. In diesem Augenblick ist mir klar geworden, dass es mich in die Ferne zieht, so wie die Passagiere, die in diesem Flugzeug saßen und sich darauf freuten, Deutschland für eine Weile hinter sich zu lassen und etwas Neues zu erfahren.
»Doch bislang ist nichts anderes passiert, als dass ich Stefans wegen in Hamburg geblieben und Beas wegen nach Sylt gegangen bin. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um die Welt zu erkunden, und zwar nicht nur in hundertachtundzwanzig Tagen per Kreuzfahrtschiff. Ich möchte Europa bereisen, vielleicht auch Asien. Doch zunächst einmal würde ich gern meinen Traum wahrmachen und nach Italien gehen. Genau genommen nach Venedig. Ich werde mich in den kommenden Tagen ein wenig umhören und mich bewerben, sobald sich irgendeine Chance dazu ergibt. Ich weiß, ihr seid jetzt enttäuscht. Aber ihr beide habt eure Träume schon realisiert, und du, Nele, musst den deinen nur retten. Aber ich muss ihn erst mal leben. Könnt ihr das nicht verstehen?«
Für einen Moment herrscht Stille am Tisch, doch dann kommt Leben in Nele und meine Tante.
»Du hast vollkommen recht«, ergreift Bea als Erste das Wort. »Du bist noch jung und hast alles vor dir. Die Verpflichtung, ein eigenes Geschäft zu haben, kommt vielleicht noch ein bisschen zu früh für dich. Du siehst ja an mir, dass ich auch immer wieder mal das Gefühl hatte, etwas verpasst zu haben. Daher die Idee mit der Weltreise. Aber wo steht geschrieben, dass man seine Träume immer erst gegen Ende seines Lebens verwirklichen soll? Du machst das alles schon richtig. Bewirb dich, geh nach Venedig, genieß deine Jugend, und denk ab und zu an uns. Nele und ich werden das schon hinbekommen, nicht wahr?«, fragt sie und sieht meine Freundin an.
»Ich finde, deine Tante hat alles gesagt«, ergänzt Nele und lächelt mich an. »So schön ich es auch gefunden hätte, mit dir zusammen etwas aufzubauen. Aber wer weiß? Vielleicht hast du ja eines Tages die Nase voll vom Nomadenleben und kommst hierher zurück.«
»Bis dahin bin ich dann wirklich alt und grau und kann keinesfalls mehr in der Bücherkoje arbeiten«, ergänzt Bea, die heute Abend besonders vital wirkt, was so gar nicht zu ihren Worten passt. »Dann trinken wir jetzt auf unser aller Zukunft, würde ich sagen. Auf das Büchernest und auf dich, Lissy. Mögen alle deine Wünsche in Erfüllung gehen!«
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Kapitel 14
D ie kommenden Tage rasen nur so dahin. Bea und Nele hocken ständig zusammen und versuchen sich auf einen Modus der Zusammenarbeit zu einigen, ihre Konzepte zu verfeinern und rechnen und rechnen. Ich telefoniere inzwischen mit Tilman Luckner, der sich netterweise bereit erklärt, uns einen Volontär »auszuleihen«, wie er es formuliert, der Betriebswirtschaft studiert hat und dessen Spezialgebiet Unternehmensgründungen sind.
Daher sehe ich meine Tante und meine Freundin nur noch sporadisch und kann mich so auf meine eigenen Zukunftspläne konzentrieren. Ich setze mich mit mehreren großen Hotelketten in Verbindung und informiere mich über sämtliche Stellenausschreibungen in Italien. Leider ist Venedig nicht dabei, aber immerhin Rom und Neapel. Über die Bücherkoje bestelle ich mir einen Sprachkurs, um ein wenig Italienisch zu lernen, was mir verhältnismäßig leichtfällt, weil ich in der Schule gut in Latein war.
Über all diesen Aktivitäten vergesse ich Marco beinahe, bis ich von einer vakanten Stelle als Pressesprecherin eines bekannten Mailänder Hotels erfahre. Die Ausschreibung klingt verlockend, der Zeitpunkt würde auch gut passen. Starttermin ist der 1. November. Dann hätte ich genug Zeit, um meine Zelte auf Sylt abzubrechen, mich darum zu kümmern, die Reste meines Hamburger Hausstands aufzulösen, und meine geplante Reise nach Venedig anzutreten.
Beim Stichwort »Mailand« überlege ich, mich doch bei Marco zu melden. Schließlich kann er mir am besten sagen, ob diese Stadt für mich in Frage kommt, und mir eventuell
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