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Inselzirkus

Titel: Inselzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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spöttisch klingen sollte, aber verdächtig nahe am Schluchzen war. »Was hast du in deinem Dorf schon erlebt!«
    Mamma Carlotta verschlug es selten die Sprache. Dies war einer der wenigen Momente, in denen ihr nicht nur der Wortschatz, sondern auch die Stimme versagte. Ihre Erfahrungen sollten nichts wert sein, nur weil sie ihr Leben in einem Dorf verbracht hatte, für das sich nie eine Fernsehproduktion interessieren würde? Männer, die unschuldige Mädchen verführen wollten, gab es überall, in ihrem Dorf genauso wie auf Sylt. Und letztlich kam es nicht darauf an, ob der Verführer ein Chefautor oder der Briefträger war. Junge Mädchen mussten sowohl vor dem einen als auch vor dem anderen in Sicherheit gebracht werden. Und wer eignete sich dafür besser als die eigene Großmutter?
    Carolin, die sich nur ungern auf Wortgefechte einließ, hatte mehr, lauter und viel emotionaler gesprochen, als es eigentlich ihre Art war. Dieses kurze Aufflackern ihres italienischen Erbes wurde gleich wieder verschüttet von dem friesischen Anteil, der bei ihr wesentlich ausgeprägter war. Wortlos, aber mit einer gekränkten Miene, die auf jeder Theaterbühne überzeugt hätte, drehte sie sich um … und prallte mit der Casting-Chefin zusammen, die sie lachend auffing.
    Â»Du bleibst selbstverständlich hier! Und deine Großmutter auch.« Leise, so leise, dass nur Mamma Carlotta und Carolin es verstehen konnten, ergänzte sie: »Unser Chefautor wird hier bald nichts mehr zu sagen haben, wenn er so weitermacht.«

    Erik hatte dafür gesorgt, dass die Terrasse des Hafenrestaurants geräumt wurde. Wie sollte er an der Anlegestelle arbeiten, wenn sich unzählige Blicke in seinen Nacken bohrten? Das ertrug er selbst dann schwer, wenn er sich gesund und leistungsfähig fühlte. Bedächtig beugte er sich vor und starrte angestrengt und aufmerksam in das wachsbleiche Gesicht des unbekannten Mannes. Ertrug er es, ohne Übelkeit zu verspüren? Wasserleichen waren eine Belastungsprobe für jeden Polizeibeamten. Auf Sylt waren sie zwar keine Seltenheit, aber ein Gewöhnungseffekt schien trotzdem nicht einzustellen. Auf einer Ferieninsel gab es viele Ursachen für Wasserleichen: Herzinfarkt oder Hirnblutung während des Schwimmens, plötzlicher Reflextod im Wasser durch einen Sonnenstich, Sturz ins Wasser mit einer Verletzung, die zur Ohnmacht führte, oder Halswirbelbruch nach einem Kopfsprung.
    Hier jedoch verhielt es sich anders. Dr. Hillmot drehte den Toten auf die Seite und wies auf den Hinterkopf. »Er ist erschossen worden. Ob er schon tot war, als er ins Wasser fiel, lässt sich jetzt noch nicht sagen.«
    Â»Ist für die Ermittlungen zunächst nicht so wichtig«, meinte Erik, stellte sich wieder aufrecht hin und bemühte sich um zwei, drei gleichmäßige Atemzüge. Dann fiel ihm etwas ein, was ihm die Möglichkeit verschaffte, sich für ein paar Augenblicke von der Wasserleiche zu entfernen. Er ging zum zweiten Streifenwagen hinüber, in dem Vetterich mit seinen Leuten hockte. Die sahen allesamt so aus, als hofften sie darauf, dass ihre Mitwirkung an der Aufklärung dieses Falls nicht vonnöten sein würde.
    Â»Keine Sorge«, begann Erik, »nichts, was den Magen-Darm-Trakt belastet! Nur die Suche nach der Tatwaffe, nach Geschosshülsen und … na, Sie wissen schon.«
    Â»Er ist also erschossen worden?«, fragte Vetterich hoffnungsfroh, dem die bloßen Folgen einer Schussverletzung wesentlich angenehmer waren als die beginnende Hautablösung bei einer Leiche, die schon lange im Wasser getrieben hatte. Dabei schien er zu vergessen, dass auch ein Mann, der an einer Schussverletzung gestorben war, anschließend lange im Wasser dahintreiben konnte.
    Erik erkannte die Sorge des altgedienten Spurenfahnders. »Er sieht noch ganz manierlich aus«, beruhigte er ihn. Sein Blick fiel auf den jüngsten der Spurenfahnder, der das Schild mit dem Aufdruck »WC« fest im Auge hatte, was sicherlich kein Zufall war.
    Â»Also erst mal die Abfalleimer durchsuchen«, ordnete Erik an. »Wenn da keiner reingekotzt hat, ist das eine saubere Sache.«
    Schon im nächsten Augenblick musste er sich sagen, dass sein Feingefühl wohl ebenso gelitten hatte wie sein Gleichgewichtssinn, seine Denkleistungen und seine rhetorischen Fähigkeiten. Es tat ihm wirklich leid, sowohl für den jungen

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