Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
sodass man das riesige Loch in seinem Pullover direkt unter seiner Achsel sah. »Ich fühle mich nicht schuldig. Ich kann darüber lachen, und man bringt damit eine Nacht rum. Mehr will ich von 4chan gar nicht. Ich brauche etwas, das mich nicht depressiv macht und auf das ich mich konzentrieren kann. Und es macht Spaß, aus der Entfernung dafür zu sorgen, dass sich ein anderer schlecht fühlt. Ich könnte das nie jemandem antun, dem ich persönlich gegenüberstehe.«
William behielt noch mehrere Nächte lang die Login-Daten von Selena für sich. Er traf sich mit seiner neuen Facebook-Gruppe und terrorisierte Selenas Facebook-Kontakte, indem er Kommentare zu Fotos ihrer Freundinnen hinterließ, sie seien fett. Die Mutter eines Facebook-Freundes von Selena war zufällig Polizistin und zeigte die echte Selena schließlich wegen Belästigung an. Für William war Selena »das Geschenk, das nicht aufhört zu schenken«. Einmal postete William ein Status-Update auf Selenas Profil, in dem er ihre Freunde darüber informierte, ihr Account sei gehackt worden, aber jetzt sei alles wieder normal. Das nächste Update kam von einem angeblichen Freund, der behauptete, Selena sei von einem Betrunkenen überfahren worden und gestorben. Das war genau die Art von Aufregung, die William am liebsten verursachte. Anstatt ein Publikum aus Tausenden von Menschen auf Twitter zu unterhalten, wie Topiary es getan hatte, sorgte er lieber für seine eigene Unterhaltung, indem er andere Menschen blamierte. Dennoch gab es Gemeinsamkeiten zwischen den beiden. Sie hatten beide über 4chan zu Anonymous gefunden.
Zwei Monate nach dem Einbruch in Selenas Account ergriff William die Gelegenheit zu einem Treffen mit Jake Davis, der inzwischen auf Kaution draußen war. Das Treffen war organisiert, damit die beiden sich bei einem Mittagessen über Anonymous unterhalten konnten. Es wäre das erste Mal, dass sie überhaupt miteinander sprachen, offline oder online. Zum ersten Mal würden sie einen anderen Anon persönlich kennenlernen und sich über den Einfluss von Anonymous auf ihr Leben austauschen können.
William und Jake kauften sich jeder ein Zugticket für die Fahrt in eine unscheinbare Stadt in England, wo sie sich treffen sollten. Jake erfuhr dadurch zwar den richtigen Vornamen von William und sah, wie er aussah, aber er bat um keine weiteren Informationen, die William identifizieren konnten, und erfuhr nie seinen vollständigen Namen. Am Morgen des Treffens schlängelte sich Williams Zug durch die Landschaft, an grünen und braunen Feldern vorbei, an trägen Schafen und dunklen Flüssen, die in der grellen Wintersonne glitzerten. Er war nervös. Jake ging es nicht anders. Sein Zug fuhr Richtung Süden. Die elektronische Fußfessel erinnerte ihn konstant daran, dass er spätestens um 22 Uhr zu Hause sein musste.
Schließlich fuhr Jakes Zug in den Bahnhof ein. Er stieg aus, stellte sich in der großen Bahnhofshalle an eine Mauer und wartete.
Fünfzehn Minuten später kam Williams Zug mit quietschenden Bremsen auf dem gegenüberliegenden Gleis zum Stehen. Er betrat das Bahnhofsgebäude und watete durch eine Menge von Pendlern. Dann sah er Jake in einem kleinen Streifen Sonnenlicht an der Mauer stehen. Jake trug einen schwarzen Mantel, hatte einen Bartschatten und war klein. Er hob den Blick und lächelte. Williams Gesicht blieb ausdruckslos. Die beiden begrüßten sich und gaben sich die Hand. Dann blickten sie schnell zur Seite.
Anons trafen sich so gut wie nie persönlich, schon weil es dem Prinzip der Anonymität widersprach. Beide fühlten sich bei dem Treffen zunächst unwohl. Erschwerend kam hinzu, dass William zu der Zeit psychisch eine sehr dunkle Phase durchmachte und in den Tagen vor dem Treffen ständig gegen Selbstmordgedanken angekämpft hatte. Jake freute sich darauf, mit jemandem sprechen zu können, der nicht zum engeren Familienkreis gehörte, insbesondere weil sie etwas miteinander gemein hatten.
Die beiden saßen beim Mittagessen in einem Pizzarestaurant. Jake plauderte über sein Gerichtsverfahren und ein paar Nachrichten über Anonymous, die er im Fernsehen gesehen hatte. William war schweigsam und schlecht gelaunt. Selbst als Jake eine witzige Geschichte aus seiner Zeit bei LulzSec erzählte in der Hoffnung, William damit zum Lachen zu bringen, kam von William keinerlei Reaktion. Das Treffen lief nicht gut.
Schließlich kamen sie auf das Thema 4chan zu sprechen, und William wurde etwas umgänglicher. Er sprach über
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