Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
tragen. Anders als die »guten« White-Hat-Hacker nutzten sie ihre Kenntnisse, um zu ihrem eigenen, mitunter bösartigen Nutzen in andere Netzwerke einzubrechen. Kayla und Laurelai chatteten etwa eine Stunde lang; dann meinte Kayla, sie werde ihren Angriff jetzt einige Zeit unterbrechen, damit Laurelai ihre Seite auf einen anderen Server verlagern könne. Dann kehrte Kayla wieder zu ihrem DDoS-Angriff zurück.
Laurelai fragte später einige Black-Hat-Hacker, die sie kurz zuvor kennengelernt hatte, ob sie von Kayla gehört hätten. Sie erfuhr, dass ihre neue Freundin als jemand galt, mit dem man sich besser nicht anlegte. »Eine Menge Leute hatten richtig Angst vor ihr«, erinnert sich Laurelai. Einige waren überrascht, dass Kayla sich überhaupt herabgelassen hatte, mit Laurelai zu chatten – die war damals ja nur irgendeine Webseiten-Administratorin.
Aber die beiden blieben in Kontakt. Einige Tage darauf machte Kayla Laurelai in einem IRC-Netzwerk ausfindig und lud sie in den Chatroom ein, wo sie normalerweise abhing. Die beiden lernten einander etwas besser kennen. Laurelai fragte Kayla nach ihrem Alter. Die erwiderte, sie sei vierzehn Jahre. Nach ihrem Geschlecht gefragt, sagte sie, sie sei ein Mädchen. Als Kayla dieselben Fragen stellte, erwiderte Laurelai, sie sei eine Transgender-Frau. Daraufhin begann Kayla sofort ein Gespräch über Hormonergänzungstherapien und dergleichen und schien sich mit Dosierungen und Nebeneffekten besser auszukennen als sie selbst; Kayla nannte die kleinen blauen Pillen mit dem Markennamen Estrofem sogar bei ihrem Insider-Spitznamen titty skittles (etwa »Tittenkapseln«).
Laurelai fragte sich, ob sie womöglich mit einer Transgender-Hackerin sprach.
Es gab nicht viele Erkenntnisse über transsexuelle Hacker, aber eine Menge Geschichten, die nahelegten, dass überproportional viele Transsexuelle regelmäßig 4chan besuchten oder sich in der Hackerszene engagierten. Einer der Gründe war vielleicht, dass die Menschen, die viel Zeit im Netz verbrachten und dort ihr Geschlecht änderten, sich das auch im realen Leben leichter vorstellen konnten. Die Grenzen zwischen dem Online- und Offline-Ich verschwammen, und wie Prof. Christina Dunbar-Hester von der Rutgers University berichtet, die sich mit geschlechtsspezifischem Verhalten im Hacken von Hard- und Software befasst hat, gibt es in der Netzwelt Menschen, für die das eigene Geschlecht etwas ist, das sich »hacken« lässt wie alles andere auch. Hat man sich daran gewöhnt, einen Rechner oder ein Programm den eigenen Bedürfnissen anzupassen, versucht man es vielleicht auch mit dem eigenen Körper, besonders, wenn man sich mit seinem genetischen Geschlecht nicht wohl fühlt. Trotzdem, so Dunbar-Hester, folgen den virtuellen Geschlechtsumwandlungen im Netz längst nicht genauso viele im realen Leben. Mit anderen Worten: Kayla konnte auch einfach ein Mann sein, der sich im Netz gerne als Frau ausgab, nicht mehr.
»Bist du eine Transsexuelle?«, fragte Laurelai offen. »Nein«, schrieb Kayla zurück. »Ich kenne nur jemanden, der so ist.:)« Kayla hatte sehr schnell geantwortet, und das verstärkte Laurelais Verdacht nur. »Ist ja eigentlich auch egal«, schrieb sie und meinte, wenn Kayla als Frau angesprochen werden wolle, würde sie das gerne respektieren. Die beiden chatteten weiter über Hacken, Trollen und Social Engineering; Laurelai war die Schülerin, Kayla die Lehrerin. In den nächsten Jahren führte Kayla Laurelai in ihre geheime Welt ein, und Anonymous wurde unwichtig für sie. Was jetzt gebraucht wurde, war eine neue Sache, für die man sich engagieren konnte. Ende 2010 war es endlich so weit, und Anonymous kehrte ins internationale Rampenlicht zurück.
Kapitel 7: Feuer Feuer Feuer Feuer
Inzwischen war es September 2010, und das Phänomen Anonymous war schon seit einigen Jahren wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. Die Raids waren jetzt nur noch schäbige kleine Angriffe auf andere Webseiten, entweder durch die Chans oder von /b/ selbst. In den IRC-Chatrooms tat sich auch nicht mehr viel. Die Tausende User, die einmal #xenu belagert hatten, waren weitergezogen, abgestoßen von den internen Streitigkeiten und gelangweilt von einem erschöpften Thema.
Am 8. September tauchte dann ein Artikel über die indische Softwarefirma Aiplex im Netz auf. Deren CEO, Girish Kumar, hatte sich der Presse gegenüber gebrüstet, sein Unternehmen arbeite als Auftragskiller für Bollywood, die boomende indische Filmindustrie.
Weitere Kostenlose Bücher