Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
Aiplex verkaufte nicht nur Software, sondern griff im Auftrag von Filmstudios Webseiten an, von denen man Raubkopien ihrer Filme herunterladen konnte. Vor kurzem hatte sie zum Beispiel DDoS-Angriffe gegen mehrere Torrent-Seiten durchgeführt, darunter auch gegen die bekannteste, The Pirate Bay. Diese 2003 gegründete größte und reichhaltigste BitTorrent-Webseite war eine Fundgrube im Netz. Jeder konnte sich hier – allerdings illegal – Kinofilme, Musik, Pornos und Programme herunterladen. Aiplex hatte die Server von The Pirate Bay mit einem Botnet überlastet und die Seite zeitweilig offline gedrängt. Kumar hatte erklärt, dass Aiplex zunächst eine Abmahnung schicke; reagiere die Torrent-Seite nicht, »dann überschwemmen wir sie mit Anfragen, was zu einem Database Error führt, sodass die Seite nicht mehr erreichbar ist«.
Technikblogger und Journalisten hatten bereits vermutet, dass Pirateriebekämpfer im Internet Torrent-Seiten wie The Pirate Bay mit DDoS-Attacken lahmzulegen versuchten, aber Kumars Eingeständnis war der erste Beleg für diese schockierende Praxis. DDoS-Angriffe waren in den USA illegal – genau für dieses Delikt war Brian Mettenbrink ein Jahr in Haft gekommen, und diese indische Firma prahlte noch damit, dasselbe zu tun.
Die /b/-User stürzten sich sofort auf das Thema; viele von ihnen wollten gegen Aiplex zurückschlagen. Einige posteten einen Kommt-alle-hier-rein-Link zu einem IRC-Chatroom, in dem man in Ruhe planen konnte. Dieses Mal drängten sich die Interessenten allerdings nicht zu Tausenden wie seinerzeit in #xenu. Der Kampf gegen das Urheberrecht war längst nicht so sexy wie der gegen eine Scheinreligion, die ein Video mit Tom Cruise unterdrückte. Aber die /b/-User waren andererseits oft begeisterte Raubkopierer, und schon bald hatten sich hundertfünfzig von ihnen im Chatroom versammelt, die bereit waren, es Aiplex mit gleicher Münze heimzuzahlen.
Einen solchen Angriff zu koordinieren würde nicht leicht werden. Die IRC-Netzwerke wussten inzwischen, dass die Anonymous-Mitglieder sich über ihre Chatrooms austauschten, und schlossen den betreffenden Kanal, wenn sie glaubten, darin werde ein DDoS-Angriff besprochen. Die Anons mussten also von einem IRC-Netzwerk zum anderen springen und immer wieder in andere Chatrooms ausweichen, wobei sie bei jedem Umzug ihre neue Adresse in Form von Links auf 4chan und Twitter hinterließen, damit alle anderen folgen konnten. Niemand war beauftragt, die neuen Netzwerke zu finden; wenn ein Umzug nötig wurde, war immer jemand mit einer neuen Adresse zur Stelle. Die Chatrooms bekamen harmlose Namen, damit sie keine Aufmerksamkeit auf sich zogen; allerdings hieß derjenige, der für die Attacke auf Aiplex am wichtigsten war, einfach #savethepb, wobei »pb« für »The Pirate Bay« stand.
Nach einigen Absprachen startete die Gruppe am 17. September um 21 Uhr Ostküstenzeit ihren ersten DDoS-Angriff auf Aiplex. Wie erhofft, fiel die Webseite der Softwarefirma aus – und blieb vierundzwanzig Stunden lang offline. Dadurch ermutigt, erweiterten die Anons ihren Angriff und posteten digitale Flyer auf /b/, damit andere User die LOIC gegen einen weiteren Gegenspieler der Raubkopierer einsetzen konnten: die Recording Industry Association of America (RIAA, die Organisation der US-Musikindustrie). Im Technikblog TorrentFreak.com erschien ein Artikel mit dem Titel »4chans DDoS-Angriff gegen RIAA – ist das die Protestform der Zukunft?« Danach nahm die Gruppe sich eine weitere Urheberrechtsorganisation vor, die Motion Picture Association of America (MPAA, der Verband der US-Filmindustrie).
Zwei Tage später wurde eine Meldung in den Medien lanciert, in der es hieß, Anonymous räche sich mit Angriffen gegen Urheberrechtsorganisationen und deren »Lohnkiller« Aiplex für den Schlag gegen The Pirate Bay. Die Aktion wurde darin »Operation: Payback Is A Bitch« genannt; außerdem wurde behauptet, ein »EINZIGER ANON« habe sie mithilfe eines Botnets ausgeführt. »Anonymous hat es satt, dass kommerzielle Interessen das Internet beherrschen und das Recht der Menschen auf Informationsfreiheit abwürgen«, hieß es in dem Brief. »Freuet euch, o /b/-Brüder!«
Das illegale Herunterladen von Filmen und Musik wurde unverhohlen romantisiert; Aiplex’ Angriff gegen The Pirate Bay wurde als »Zensur« eingestuft. Dieser Standpunkt machte das Projekt für die Szene attraktiver. Zum ersten Mal seit zwei Jahren sah es so aus, als sei Anonymous wieder auf
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