Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
ausgezogen. Er lebte nicht mehr bei seiner Mutter auf der kleinen Insel Yell, sondern in einem gemieteten Häuschen in Lerwick, dem Hauptort der Shetlands auf der Insel Mainland. Die Miete bezahlte die Gemeinde. Lerwick war nur unwesentlich fortschrittlicher als Yell. Auch hier gab es weder Fast-Food-Restaurants noch Kaufhäuser. Es war kalt und windig, da und dort waren grüne Felder zu sehen, unterbrochen von braunen Kliffs und grauen steinernen Ruinen im welligen Gelände. Jake kannte hier kaum jemanden, aber er war sowieso lieber alleine.
Sein Haus war eines von mehreren Holzhäuschen im Châletstil an einem Abhang, etwa zwanzig Gehminuten vom Lerwicker Zentrum entfernt. Die Gegend hieß Hoofields. In Jakes Straße fanden häufig Drogenrazzien der Polizei statt, weil einige seiner Nachbarn bekannte Heroinsüchtige waren. Jakes Haus war klein, gelb und einstöckig; es gab auf der einen Seite ein großes Wohnzimmer und eine Küche und auf der anderen Schlafzimmer und Bad. Im Vorgarten wagten sich im Frühling manchmal Gänseblümchen hervor, und hinter dem Haus stand in einem Schuppen ein alter Kühlschrank, der hartnäckig nach Fisch stank, seitdem Jake ihn einmal mit rohem Lachs gefüllt und dann drei Wochen lang vergessen hatte, dass das Gerät abgeschaltet war. Alle seine Möbel hatte er gebraucht von Einheimischen gekauft, wobei ihm das Gemeinschaftsgefühl der Insulaner zugutekam, die nicht viel Geld voneinander nehmen wollten. Sein Herd hatte zum Beispiel bei einem Neupreis von 500 Pfund nur 25 gekostet, er hatte ihn von einem Freund der Familie gekauft.
Jake hatte einen Teilzeitjob in einer Autowerkstatt und kam gerade so über die Runden. Er freute sich jeden Tag darauf, ins Netz zu gehen, wo die meisten seiner Freunde zu finden waren, und auch die Telefonstreiche machten ihm noch Spaß.
Eines Abends war er gerade bei seiner Mutter zu Besuch, als er einen Anruf von jemandem erhielt, der sich als Freund seines Vaters vorstellte. Das war ein Schock für Jake, der seit Jahren zu seinem Vater keinen Kontakt mehr hatte. Früher hatte er mitunter angerufen, um Jake zum Geburtstag zu gratulieren, aber auch das hatte aufgehört, nachdem Jake dreizehn geworden war. Der Mann fragte nach den Mobiltelefonnummern von Jake und seinem Bruder, damit sein Vater sie erreichen könne. Anscheinend wollte er irgendetwas loswerden. Sein Bruder lehnte ab, aber Jake gab dem Bekannten seine Nummer und wartete ab.
Mehrere Wochen lang war Jakes Telefon immer geladen und lag nachts neben seinem Bett, doch es kam kein Anruf. Mitte Oktober, eine Woche nach seinem achtzehnten Geburtstag, rief dann der Freund des Vaters wieder an; seine Stimme klang bedrückt, und er entschuldigte sich im Voraus für die Nachricht, die er überbringen musste. Jakes Vater hatte sich umgebracht. In der vergangenen Woche hatte er, so der Bekannte, stundenlang zu Hause am Telefon gesessen und sich aufzuraffen versucht, Jake anzurufen. »Aber er hat sich nicht getraut«, meinte der Mann; »stattdessen« habe er dann Selbstmord verübt.
Jake wusste nicht, wie er reagieren sollte. Zuerst fühlte er sich wie betäubt. Sein Vater hatte nicht zur Familie gehört, also musste Jake eigentlich nicht besonders betroffen sein. Als er fragte, wie es passiert sei, erzählte der Bekannte, sein Vater habe sich mit Autoabgasen erstickt, indem er spätabends in die Garage gefahren sei und den Motor laufen gelassen habe.
Es war ein surreales Bild. Die ersten beiden Tage nach dem Anruf war Jake wütend. Es wirkte irgendwie selbstsüchtig von seinem Vater, erst nach der Nummer zu fragen und einen Anruf in Aussicht zu stellen, als ob er gewollt habe, dass Jake auch bestimmt mitbekam, was passieren würde. Nach einigem Nachdenken kam er allerdings zu dem Ergebnis, dass er sich wahrscheinlich irrte. Bestimmt hatte sein Vater ihn nicht verletzen wollen.
Jake betrieb weiter sein Online-Gaming und besuchte auch weiterhin 4chan. Etwa einen Monat später entdeckte er das neue Chatnetzwerk speziell für Anonymous: AnonOps. Interessiert loggte er sich ein, wählte den Spitznamen Topiary und versuchte sich zu orientieren, wie er am besten mitmachen konnte. Er begriff sich eigentlich nicht als Aktivist, aber Operation Payback sah gut organisiert und potenziell wirkungsvoll aus. Er wusste noch nicht, dass der Kampf gegen das Urheberrecht zwar an Schwung verlor, aber gleichzeitig ein neues Ziel auftauchen würde: die Unterstützung für eine kleine Organisation namens
Weitere Kostenlose Bücher