Inside Occupy
gefährden droht, da im Wesentlichen sie es sind, die die »westliche Zivilisation« erfunden haben.
Was aber sehen wir denn nun, wenn wir die Scheuklappen vermeintlicher Selbstverständlichkeiten ablegen und genau hingucken? Nun, beginnend mit dem 16., 17. und 18. Jahrhundert sehen wir eine Gruppe nordatlantischer Königreiche, die sich in fast jeder Hinsicht wegbewegen von früheren Formen allgemeiner Regierungsbeteiligung und eine zunehmend zentralisierte, absolutistische Herrschaft herausbilden. Nordeuropa war bis dahin im Vergleich zum Rest der Welt eher rückständig gewesen, aber jetzt gliederte es sich auf spektakuläre Weise und in rasendem Tempo in die weitere Weltwirtschaft ein. Was daraus folgte – Überseehandel, Eroberungen und Kolonialisierung –, führte zu einer Überflutung mit einer chaotischen und verwirrenden Fülle neuer politischer Ideen und Erfahrungen. Die meisten Intellektuellen interessierten diese lediglich als Mittel zur weiteren Zentralisierung der Monarchie – Leibniz etwa war fasziniert vom Beispiel Chinas und seinem funktionstüchtigen Staatsapparat, Montesquieu vom Beispiel Persiens. Andere Gelehrte – John Locke etwa und die politischen Philosophen Englands, auf die sich dann später die Gründerväter beriefen – waren beeindruckt von der Existenz zugleich egalitärerer und individualistischerer Gesellschaften, als man sich das in Europa bis dahin hätte vorstellen können. Und diese Gesellschaften lebten in Nordamerika.
Das war für die ersten europäischen Siedler mitnichten eine bloße Angelegenheit intellektueller Reflexion. Sie sahen sich in einer parado xen Situation des unmittelbaren Kontakts mit diesen Menschen. Einerseits mussten sie von ihnen lernen, wie man in der Neuen Welt überleben konnte, andererseits leisteten sie ihrer Verdrängung und weitgehenden Ausrottung Vorschub. So oder so passten die frühen Siedler ihre Handlungs- und Lebensweisen zunehmend denen der Indianer an.
Seit 1977 gibt es eine lebhafte Debatte über den indianischen »Einfluss« auf die amerikanische Demokratie. Es geht dabei vor allem um die Frage, ob bestimmte Elemente der amerikanischen Verfassung, speziell ihre föderale Struktur, vom Vorbild des Sechs-Nationen-Bunds (League of Six Nations) der Irokesen oder Haudenosaunee, wie sie sich selbst nennen, beinflusst waren. Die Debatte begann mit einem Buch des Histo rikers Donald Grinde, der selbst Indianer ist. 24 Ihm zufolge war es allem Anschein nach ein Onondaga-Delegierter namens Canassatego, der während der Verhandlungen um den Vertrag von Lancaster 1744 25 als Erster den Vorschlag für eine Föderation der Kolonien gemacht hatte. Von den Verhandlungen mit sechs einzelnen Kolonien erschöpft, brach er einen Pfeil entzwei, um zu zeigen, wie zerbrechlich er war; dann nahm er einBündel von sechs Pfeilen und forderte seine Verhandlungspartner zum Brechen der Pfeile auf. 26 Der Vorschlag wurde von Benjamin Franklin aufgenommen, der zehn Jahre später den Kolonien, wenn auch zunächst ohne Erfolg, ein föderatives System vorschlug.
Die Mutmaßung, dass der Irokesenbund einen Einfluss auf die ameri kanische Verfassung gehabt haben könnte, war schon im 19. Jahrhundert gelegentlich vorgebracht worden, aber kaum auf Beachtung gestoßen. Als man sie in den Achtzigern erneut aufs Tapet brachte, löste sie einen Feuersturm aus. Der Kongress verabschiedete ein Gesetz, das diesen Einfluss als historische Tatsache anerkannte. Aber die Konservativen ge rieten in Harnisch ob der bloßen Vorstellung, die Gründerväter könnten unter dem Einfluss von irgend etwas anderem als besagter »westlicher Zi vilisation « gehandelt haben. Die indianischen Wissenschaftler schlossen sich der Entscheidung des Kongresses vorbehaltlos an, während sowohl die (nichtindianischen) Irokesen-Experten als auch die Verfassungshistoriker sie merkwürdigerweise kurzerhand verwarfen. Das legte nun den wirklich absurden Schluss nahe, das einzig föderative System, mit dem die Staatsgründer je in Berührung gekommen waren – und einige von ihnen hatten selber an den Vertragsverhandlungen mit den Sechs Nationen teilgenommen –, hätte bei der Schaffung eines eigenen föderativen Systems überhaupt keine Rolle gespielt. 27
Ein solches Argument lässt sich nur deshalb vorbringen, weil die Autoren der
Federalist Papers
und ähnlicher Dokumente sich in ihren einschlägigen Aussagen nur auf die föderativen Systeme bezogen, von denen sie gelesen hatten, ohne ihrer je
Weitere Kostenlose Bücher