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Inside Occupy

Inside Occupy

Titel: Inside Occupy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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ansichtig geworden zu sein: von Judäa im Buch der Richter, vom Achaiischen Bund, von der Schweizer Eidgenossenschaft, vom Vereinigten Königreich der Niederlande. Wann immer sie von den einheimischen Völkern sprachen, war von den »Wilden« die Rede, denen keine eigene politische Erfahrung zugebilligt wurde.
    Wenn wir auf der Suche nach den Ursprüngen demokratischer Befindlichkeiten nach Situationen zu graben beginnen, in denen Menschen tatsächlich direkte, praktische Erfahrungen mit kollektiven Entscheidungsprozessen gemacht hatten, stoßen wir alsbald auf Funde, die uns womöglich gar nicht gefallen. 1999 veröffentlichte John Markoff, einer der führenden zeitgenössischen Experten in Sachen europäischer Demokratie, einen Essay mit dem Titel »Where and When Was Democracy Invented?« Darin findet sich folgende Passage:

    »Dass Führerschaft sich aus der Billigung der Geführten ableiten lässt, anstatt von einer höheren Autorität gewährt zu werden, dürfte eine durchaus wahrscheinliche Erfahrung für die Besatzungen von Piratenschiffen zu Beginn der modernen atlantischen Welt gewesen sein. Nicht nur wählten diese Besatzungen ihre Kapitäne,sie waren auch vertraut mit einer ausgleichenden Gegenkraft (in Form von Quartiermeistern und Schiffsräten) sowie Vertragsbeziehungen zwischen Individuum und Kollektiv (in Form von schriftlich fixierten Schiffssatzungen über die Verteilung der Beute und Entschädigungen im Fall von Arbeitsunfällen).« 28

    Das ist bei Markoff bloß eine Randbemerkung, aber in gewissem Sinne doch ein gutes Beispiel für das, worum es hier geht. Wenn man nach überlieferten Schiffssatzungen gehen kann, war die typische Organisation eines Piratenschiffs im 18. Jahrhundert bemerkenswert demokratisch. 29 Kapitäne wurden nicht nur gewählt, ihre Funktion glich in vielerlei Hinsicht der der Kriegshäuptlinge nordamerikanischer Indianer: Während der Jagd und im Gefecht mit absoluter Macht ausgestattet, unterschieden sie sich sonst nicht von der gewöhnlichen Crew. Schiffe, die ihre Kapitäne mit größerer allgemeiner Macht ausstatteten, behielten der Besatzung das Recht vor, sie jederzeit absetzen zu können, sei es wegen Feigheit, Grausamkeit oder aus sonst einem Grund. In jedem Fall oblag die letzte Entscheidungsgewalt der Vollversammlung, die oft schon wegen Geringfügigkeiten wie kleinen Streitereien einberufen wurde und diese ausnahmslos durch Handzeichen entschied.
    Vielleicht muten diese Verhältnisse weniger überraschend an, wenn wir uns die Herkunft der Piraten ansehen. Piraten waren für gewöhnlich Seeleute, die in irgendeiner Hafenstadt am Atlantik gegen ihren Willen in Dienst genommen (»schanghait«) worden waren und die sich später einer Meuterei angeschlossen hatten. Mit ihrer Meuterei gegen einen tyrannischen Kapitän »erklärten sie der ganzen Welt den Krieg«. Oft wurden sie klassische Sozialbanditen, die sich an Kapitänen rächten, die ihre Besatzung misshandelten, und vorbildliche freiließen, ja sogar belohnten. Die Besatzungen waren oft bunt zusammengewürfelt. Die Mannschaft des englischen Piraten Black Sam Bellamy von 1717 »war ›ein gemischter Haufen aus aller Herren Länder‹, darunter Briten, Franzosen, Holländer, Spanier, Schweden, Indianer, Afroamerikaner und zwei Dutzend Afrikaner, die man von einem Sklavenschiff befreit hatte«. 30 Mit anderen Worten: eine bunte Ansammlung von Menschen, bei denen sich aller Wahrscheinlichkeit nach eine gewisse praktische Erfahrung mit direktdemokratischen Institutionen fand, vom schwedischen
Thing
über die afrikanische Dorfversammlung bis hin zum Friedensrat der amerikanischen Indianer. Und plötzlich sahen sich diese Menschen mangels einer regierenden Autorität gezwungen, für irgendeine Art von Selbstverwaltung zu sorgen. Insofern waren die Piratenschiffe der perfekte interkulturelle Versuchsraum. Womöglich hat es damals im ganzen atlantischen Raum keinen besseren Nährboden für die Entwicklung neuer demokratischer Institutionen geben können.
    Ich will gar nicht behaupten, dass die demokratischen Praktiken, die sich im frühen 18. Jahrhundert auf den Piratenschiffen des Atlantik entwickelt haben, einen direkten oder auch nur indirekten Einfluss auf die Evolution demokratischer Einrichtungen sechzig, siebzig Jahre später gehabt haben. Es lässt sich aber auch nicht ausschließen. Allenthalben kursierten damals effekthascherische Berichte über Piraten. Die Wahrscheinlichkeit, dass Männer wie Madison oder

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