Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Inside Occupy

Inside Occupy

Titel: Inside Occupy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
Vom Netzwerk:
republikanische System, das die Gründerväter ausdrücklich in der Absicht geschaffen hatten, die Gefahren der Demokratie in Schranken zu halten, schließlich selbst in »Demokratie« umbenannt wurde.
    Und genau so benutzen wir den Begriff noch heute.
    Furiose Mixturen
    Wenn also Angehörige der gebildeten Schichten von »Demokratie« sprachen, dann dachten sie dabei an ein Regierungssystem mit ausdrücklichen Wurzeln in der antiken Welt. Der gewöhnliche Amerikaner dagegen scheint die »Demokratie« in einem, wie wir heute sagen würden, breiteren sozialen und kulturellen Kontext gesehen zu haben. Für ihn bedeutete »Demokratie« Freiheit, Gleichheit, die Möglichkeit, sich als einfacher Farmer oder Ladeninhaber mit Würde und Selbstachtung an »Höherstehende« wenden zu können – eben die Art demokratischer Befindlichkeit, die später ausländische Beobachter wie Alexis de Tocqueville beeindrucken sollte, als er von der »Demokratie in Amerika« sprach. Wie die wahren Wurzeln so vieler politischer Erneuerungen, die die großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts erst möglich machten, lassen sich auch die Ursprünge dieser Befindlichkeit nur schwer rekonstruieren. Aber mein Verdacht ist, dass sie nicht dort liegen, wo wir danach zu suchen gewohnt sind.
    Wir sind es gewohnt, Demokratie als Produkt von etwas zu sehen, was wir als »den Westen« oder als »westliche Zivilisation« bezeichnen – Konzepte, die es übrigens zur Zeit Washingtons oder Jeffersons überhauptnoch nicht gab. Diesem Denken zufolge wurde die Demokratie im antiken Athen »erfunden« und ist seither irgendwie in eine kulturelle und intellektuelle Tradition eingebettet, die von Griechenland ins alte Rom und von dort – mit einem Umweg über das Italien der Renaissancezeit – ins mittelalterliche England gewandert ist, um schließlich im Nordatlantik heimisch zu werden. Wie diese Tradition tatsächlich beschaffen sein soll, ist nie so recht klar geworden. Es mag Hand und Fuß haben, sie als intellektuelle Tradition zu bezeichnen, als Erbe derer, deren politische Bildung mit Platon und Aristoteles begann. Aber falls dem tatsächlich so sein sollte, ist nicht so recht zu ergründen, weshalb – um ein auf der Hand liegendes Beispiel zu nehmen – jemand, der heute an einer jahrhundertealten Universität wie Oxford oder Cambridge Aristoteles in englischer Übersetzung liest, in der westlichen Tradition stehen sollte und jemand, der dieselben Werke in arabischer Übersetzung an einer jahrhundertealten Universität in Mali liest, nicht.
    Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass Aristoteles selbst den Bewohnern des Nahen Ostens eine gewisse Zivilisation zugesprochen hätte, während die Bewohner Nordeuropas in seinen Augen hoffnungslose Barbaren gewesen wären. Es führt darüber hinaus zu dem noch heikleren Problem, dass in den ersten 2400 Jahren des Bestehens dieser intellektuellen Tradition nicht ein einziger ihrer Vertreter tatsächlich für die Demokratie gewesen ist. Wie kann »Demokratie« Produkt einer intellektuellen Tradition sein, die stets im entschiedenen Gegensatz zur Demokratie gestanden hatte? Die übliche Lösung des Problems besteht in der Aussage, »der Westen« beziehe sich eigentlich auf eine kulturelle Tradition, deren einzigartige Freiheitsliebe bereits in Dokumenten des Mittelalters wie der Magna Carta zu sehen ist. Aber wenn wir von einer kulturellen Tradition sprechen, was hat dann Griechenland überhaupt hier verloren? Immerhin ist die Kultur, die der des antiken Griechenland am nächsten steht, ja wohl das moderne Griechenland, und kaum einer derer, die die »westliche Tradition« feiern, ist der Ansicht, dass Griechenland zum Westen gehört, nachdem es offensichtlich um 600 n. Chr. mit der Wahl der falschen Variante des Christentums abtrünnig geworden war.
    Bei eingehender Betrachtung kann man sich dem Schluss nicht entziehen, dass das Konzept des »Westens« nicht sonderlich kohärent ist. »Der Westen« kann fast alles bedeuten. Man kann darunter eine intellektuelle Tradition verstehen, eine kulturelle Tradition, einen Ort politischer Macht (»Intervention des Westens«), ja sogar eine Ethnie (»die in Afghanistan gefundenen Toten scheinen westlicher Herkunft zu sein«). Was wir unter Westen verstehen, hängt mehr oder weniger von den Bedürfnissen des Augenblicks ab. Es überrascht also nicht weiter, dass amerikanische Konservativeso heftig auf alles reagieren, was den Primat einer »westlichen Zivilisation« zu

Weitere Kostenlose Bücher