Inside Occupy
grausen, dass sich die vulgären Leidenschaften der Massen in Disziplinlosigkeiten, Aufruhr, gar in Orgien austoben könnten, denen dann das Modell des würdigen römischen Staatsmanns, wie er den Revolutionären vorschwebte, zum Opfer fiele. Hier ein bezeichnendes Zitat von John Adams über Athen: »Vom ersten bis zum letzten Augenblick seiner demokratischen Verfassung beherrschten Frivolität, Festivitäten, Inkonsequenz, Verschwendung, Maßlosigkeit, Ausschweifung und Zersetzung der Sitten den Charakter der gesamten Nation.« 19 Dr. Benjamin Rush, Arzt und treues Mitglied von Philadelphias »Sons of Liberty«, war gar der Ansicht, diese demokratische Lockerung der Sitten ließe sich als eine Art Krankheit diagnostizieren. Er dachte dabei insbesondere an die Auswirkungen »einer Änderung der Gewohnheiten hinsichtlich der Ernährung, des Umgangs und der Sitten,hervorgerufen durch die Streichung gerechter Schulden mittels abgewerteten Papiergelds«. 20
»Das Übermaß an Leidenschaft für die Freiheit, aufgeheizt durch den erfolgreichen Ausgang des Kriegs, führte bei vielen zu Ansichten und Verhaltensweisen, die ihnen weder durch Vernunft auszutreiben noch vom Staat zu bändigen waren. Der weitreichende Einfluss, den diese Ansichten auf Einsichten, Leidenschaften und die Moral zahlreicher Bürger der Vereinigten Staaten hatte, stellte eine Art von Wahnsinn dar, die ich mir mit einem anderen Begriff zu charakterisieren erlaube, dem der Anarchie.« 21
Der kanadische Politikwissenschaftler Francis Dupuis-Déri hat die Verwendung des Begriffs »Demokratie« durch wichtige politische Persönlichkeiten in den USA, Frankreich und Kanada während des 18. und 19. Jahrhunderts herausgearbeitet und konnte dabei in allen Fällen das gleiche Muster feststellen. Als das Wort zuerst Verbreitung fand, zwischen 1770 und 1800, wurde es fast ausschließlich in einem abwertenden und schmähenden Sinn verwendet. Die französischen Revolutionäre schätzten die Demokratie fast ebenso gering wie die in Amerika. Man sah sie als Anarchie, als Mangel an Regierung und zügelloses Chaos. Erst im Lauf der Zeit begann dann der eine oder andere den Begriff als Provokation zu benutzen, so etwa Robespierre, der sich auf dem Höhepunkt des Schreckens als Demokrat zu bezeichnen begann, oder Thomas Jefferson, in dessen frühen Schriften das Wort »Demokratie« sich erst gar nicht findet. 22 Erst als er gegen Adams antrat, der sich als Radikaler ausgab, Verständnis zeigte für die Organisatoren der »Schuldenaufstände« und sich nachdrücklich gegen die Pläne für eine Zentralbank aussprach, entschloss Jefferson sich, seine Partei in »Demokratische Republikaner« umzubenennen.
Dennoch dauerte es eine Zeit, bevor der Begriff allgemein in Umlauf zu kommen begann.
»In den Jahren zwischen 1830 und 1850 begannen Politiker in der Vereinigten Staaten und Frankreich sich als Demokraten zu identifizieren und mit dem Begriff der ›Demokratie‹ ein auf Wahlen gebautes Regierungssystem zu bezeichnen, obwohl diese Namensänderung weder durch eine Verfassungsänderung noch durch eine Änderung des Entscheidungsprozesses gerechtfertigt war. Die Bedeutungsänderung trat zuerst in den Vereinigten Staaten in Erscheinung. Andrew Jackson war der erste Präsidentschaftskandidat, der sich als Demokrat präsentierte, ein Etikett, das er so verstand, die Interessen der kleinen Leute (insbesondere die der kleinen Farmer im mittleren Westen und der Arbeiter in den großen Städten im Osten) gegen die Mächtigen (Bürokraten und Politiker in Washington und die Oberschichten der großen Städte) verteidigen zu wollen.« 23
Jackson trat als Populist an – und das einmal mehr gegen das Zentralbanksystem, das er vorübergehend sogar demontieren konnte. Wie Dupuis-Déri bemerkt, waren »Jackson und seine Verbündeten sich sehr wohl bewusst, dass ihre Verwendung des Begriffs Demokratie eher mit etwas zu tun hatte, was man heute als politisches Marketing bezeichnen würde«. Mit anderen Worten handelte es sich im Grunde um eine zynische Masche, die aber ungeheuer erfolgreich war – so erfolgreich, dass es keine zehn Jahre dauerte, bis die Kandidaten aller politischen Parteien sich als »Demokraten« bezeichneten. Da das überall dort – Frankreich, England, Kanada – passierte, wo das Stimmrecht hinreichend ausgeweitet wurde, um die Massen gewöhnlicher Bürger zur Wahl gehen zu lassen, änderte sich auch der Begriff »Demokratie« selbst, sodass das ausgefeilte
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