Inside Occupy
Gesellschaft rasch in etwas verwandeln würde, was für die Verfechter der freien Marktwirtschaft nicht mehr wiederzuerkennen wäre. Selbst der Versuch, die Marktwirtschaft beizubehalten, würde daran nichts ändern. In dem Augenblick, in dem der Staat Verträge nicht mehr durchsetzen würde, das heißt Übereinkünfte rein auf Vertrauensbasis zustande kämen, hätte das System in Kürze mit dem, was wir heute als »Markt« bezeichnen, nichts mehr zu tun. Ganz gewiss kann ich mir nicht vorstellen, dass sich jemand aus freien Stücken zur Lohnarbeit bereit findet, wenn er an dere Optionen hat. Aber wer weiß, vielleicht irre ich mich auch. Mich interessiert weniger die Planungsarbeit an einer detaillierten Architektur so einer Gesellschaft als die Bereitstellung der Bedingungen, die es uns ermöglichen würden, das alles selbst zu erfahren.
Auf der anderen Seite haben wir kaum eine Vorstellung davon, was für Organisationen oder auch Technologien entstünden, wenn freie Menschen ungehindert ihre Fantasie einsetzen könnten, um die kollektivenProbleme tatsächlich zu lösen. Aber für mich besteht die Schlüsselfrage darin: Was wäre nötig, um politische und wirtschaftliche Systeme zu entwickeln, die tatsächlich als Mittel kollektiver Problemlösung funktionieren könnten? Davon sind unsere derzeitigen Systeme weit entfernt.
Ich habe den Eindruck, dass selbst Anarchisten lange gebraucht haben, um das volle Ausmaß des Problems zu erkennen. So neigten sie, als sie noch Teil der klassischen Arbeiterbewegung waren, durchaus zu der Ansicht, »Demokratie« bedeute Mehrheitsbeschluss. Und um die Minderheit zum Mitziehen zu bewegen, appellierte sie dann an die Solidarität. Natürlich können solche Appelle sehr effektiv sein, wenn man sich in einem Konflikt auf Leben und Tod der einen oder anderen Art sieht, wie das bei Revolutionären für gewöhnlich nun einmal ist. So arbeitete die CNT, Spaniens anarchosyndikalistische Gewerkschaft der 20er und 30er Jahre, nach dem Prinzip, dass bei Abstimmungen über Streikmaßnahmen Mitglieder, die gegen den Streik gestimmt hatten, nicht an die Entscheidung gebunden waren. Resultat davon waren fast durch die Bank Abstimmungen mit hundertprozentiger Einigkeit. Aber Streiks waren nun mal letztlich quasimilitärische Operationen. Ländliche Gemeinschaften neigten, wie überall auf der Welt, eher zum Rückgriff auf eine Art De-facto-Konsens.
In den USA wird der Konsensprozess gerne von Organisatoren an der Basis eingesetzt. So operierte etwa das Student Non-Violent Coordinating Committee, der horizontale Arm der Bürgerrechtsbewegung, nach dem Konsensprinzip, und die Students for a Democratic Society (SDS) arbeiteten zwar laut ihrer Satzung nach parlamentarischen Prinzipien, neigten aber in der Praxis eher doch zum Konsens. Die meisten derer, die bei den Meetings dabei waren, empfanden den damaligen Prozess jedoch eher als primitiv, improvisiert und immer wieder hochgradig frustrierend. Was teils daran lag, dass Amerikaner, allem demokratischen Geist zum Trotz, größtenteils nicht die geringste praktische Erfahrung mit wirklich demokratischen Verfahren haben. Es gibt da eine berühmte Anekdote aus der Bürgerrechtsbewegung, laut der eine kleine Gruppe von Aktivisten, die in einer Notfallsituation zu einer kollektiven Entscheidung zu kommen versuchte, einfach zu keinem Konsens finden wollte. Schließlich gab dann einer auf, zog eine Waffe und richtete sie auf den Moderator. »Entweder du triffst jetzt eine Entscheidung für uns«, sagte er, »oder ich knall dich ab.« Worauf der Moderator meinte: »Tja, dann wirst du mich wohl abknallen müssen.«
Die Elemente einer demokratischen Kultur, wie man so etwas nennen könnte, tauchten aus ganz überraschenden Richtungen auf. Zu reden ist hier von spirituellen Traditionen oder auch vom Feminismus.
Die amerikanischen Quäker hatten zum Beispiel über Jahrhunderte hinweg eine ganz eigene Form von Konsensprozess als spirituelle Übungentwickelt. Quäker waren, angefangen vom Abolitionismus, in den meisten amerikanischen gesellschaftlichen Basisbewegungen aktiv, aber bis in die 70er Jahre hinein größtenteils nicht willens gewesen, ihre Methoden mit anderen zu teilen. Das war für sie eine rein spirituelle Angelegenheit, und andere zu deren Übernahme anzuhalten hätte für sie so ausgesehen, als wollten sie missionieren. Dazu bedurfte es erst einer Krise in der Frauenbewegung. Diese hatte den Konsensentscheid zwar bereits in ihren kleinen
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