Inside Occupy
in Kontrolle ihres eigenen Körpers wie über andere: ihre Frauen, Kinder und Sklaven. Es ist dies der eigentliche Fehler in der ganzen Tradition der »Rationalität«, die die Gründerväter geerbt hatten. Es geht letztendlich nicht um Selbstständigkeit oder Uneigennützigkeit.Rational zu sein hat in dieser Tradition einzig mit der Fähigkeit zu tun, Befehle geben zu können: sich neben eine Situation zu stellen, sie kühl abzuwägen, die geeigneten Berechnungen anzustellen und dann anderen zu sagen, was sie tun sollen. 38 Im Wesentlichen ist das die Art von Berechnung, die sich ausschließlich dann anstellen lässt, wenn man anderen sagen kann, sie sollen den Mund halten und tun, was man ihnen sagt. Es ist einzig das zur Gewohnheit gewordene Vorrecht, Befehle zu erteilen, die einem die Vorstellung erlaubt, die Welt ließe sich auf das Äquivalent mathematischer Formeln reduzieren – Formeln, die sich auf jede Situation anwenden lassen, ungeachtet ihrer tatsächlichen menschlichen Komplexität.
Aus diesem Grund kommt jede Philosophie, die mit der Behauptung beginnt, Menschen seien – auf diese kalte, kalkulierende Weise – rational (oder sollten es sein), ausnahmslos zu dem Schluss, dass wir in Wirklichkeit das Gegenteil sind, dass die Vernunft, wie Hume es in einem berühmten Ausspruch ausgedrückt hat, stets »Sklavin der Leidenschaften« ist und dies auch sein soll. Wir streben nach Lust, und um den Zugang zur Lust zu gewährleisten, streben wir nach Besitz; und um den Zugang zu Besitz zu gewährleisten, streben wir schließlich nach Macht. Da gibt es kein natürliches Ende, wir streben nur nach immer mehr und mehr und mehr. Diese Grundannahme über die menschliche Natur haben sich bereits die Philosophen des Altertums zu eigen gemacht, und darin liegt ihre Erklärung dafür, weshalb Demokratie nur im Desaster enden kann. Sie taucht in der christlichen Tradition des Augustinus in der Verkleidung der Erbsünde wieder auf und schließlich in Thomas Hobbes’ atheistischer Theorie, nach der ein Naturzustand nur ein brutaler »Krieg aller gegen alle« sein kann. Auch die Autoren der republikanischen Verfassungen des 18. Jahrhunderts teilten diese Annahme, dass die Menschen schlicht unverbesserlich seien. So waren denn, all der gelegentlich hochgesinnten Floskeln zum Trotz, letztlich die meisten zu dem Eingeständnis bereit, es bleibe nur die Wahl zwischen gänzlich blinder Leidenschaft und der rationalen Berechnung unserer Interessen; die ideale Verfassung musste demzufolge darauf ausgerichtet sein, dass Leidenschaft und Berechnung einander kontrollierten und sich letztlich die Waage hielten.
Wir stehen also vor einem Dilemma: Jede Auffassung von Rationalität als bloße mathematische Rechnung ist aus der Macht zum Befehlen geboren und kann gar nicht anders, als Ungeheuer hervorzubringen. Als Basis für eine Theorie der Demokratie ist sie ganz klar verhängnisvoll. Aber wie sieht die Alternative aus? Wie gründet man eine Theorie der Demokratie auf jenes Urteilsvermögen, das sich stattdessen unter Gleichen herausbildet?
Einer der Gründe, weshalb sich das bisher so schwierig gestaltet, ist der, dass diese Art des Räsonnements weit komplexer und differenzierter ist und sich deshalb den beliebten quantitativen Modellen der Politologen – und der Leute, die Stipendienanträge beurteilen – entzieht. Denn wonach fragen wir schon mit der Frage nach der Rationalität einer Person? Eigentlich nur danach, ob sich ihr grundlegende logische Zusammenhänge erschließen. Das ist aber eher selten das Problem. Wenn wir jedoch fragen, ob jemand »vernünftig« ist, setzen wir den Standard viel, viel höher an. Vernünftigkeit impliziert eine weit höher entwickelte Fähigkeit, eine Balance zu schaffen zwischen verschiedenen Perspektiven, Werten und Imperativen, von denen sich für gewöhnlich keine auf eine mathematische Formel reduzieren lässt. Es bedeutet, auf einen Kompromiss zu kommen zwischen Positionen, die der formalen Logik nach nicht mit ein und demselben Maß messbar sind, so wie es keine formale Möglichkeit gibt, bei der Entscheidung, was man zum Abendessen kochen soll, die unterschiedlichen Vorteile von leichter Zubereitung, Gesundheit und Geschmack gegeneinander abzuwägen. Aber natürlich treffen wir solche Entscheidungen die ganze Zeit. Das Leben – vor allem das Leben mit anderen – besteht größtenteils aus vernünftigen Kompromissen, die nie und nimmer auf mathematische Modelle zu reduzieren
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