Inside Occupy
sind.
Man könnte das auch so ausdrücken: Politologen gehen gerne von Akteuren aus, die auf dem intellektuellen Niveau von Achtjährigen funktionieren. Entwicklungspsychologen haben festgestellt, dass Kinder sich ihre ersten logischen Argumente nicht zur Problemlösung einfallen lassen, sondern um sich Gründe für etwas auszudenken, was sie bereits denken wollen. Wer regelmäßig mit kleinen Kindern zu tun hat, wird augenblicklich erkennen, dass das stimmt. Die Fähigkeit, entgegengesetzte Perspektiven zu vergleichen und zu koordinieren, entwickelt sich erst später und ist das eigentliche Wesen gereifter Intelligenz. Es ist auch genau das, wozu sich Menschen, die an Befehlsgewalt gewöhnt sind, selten genötigt sehen.
Der Philosoph Stephen Toulmin, damals bereits berühmt für seine Modelle moralischer Argumentation, sorgte in den 90er Jahren unter Intellektuellen für Aufsehen, als er einen ähnlichen Gegensatz zwischen Rationalität und Vernünftigkeit zu entwickeln versuchte, obwohl er nicht von der Befehlsgewalt, sondern von der Notwendigkeit absoluter Sicherheit ausging. 39 Toulmin kontrastierte den generösen Geist Montaignes, der im expansiven Europa des 16. Jahrhunderts lebte und davon ausging, dass Wahrheit immer situationsbedingt sei, mit der fast schon paranoiden Strenge eines René Descartes, der ein Jahrhundert später, als Europa unter blutigen Religionskriegen implodiert war, eine Vision einer auf reiner »Rationalität« gebauten Gesellschaft entwickelte. Toulmins Schlussfolgerung: Das gesamte politische Denken seither sei von Versuchen belastet,völlig unmögliche Maßstäbe abstrakter Rationalität anzulegen, die den konkreten menschlichen Realitäten ausnahmslos Gewalt antun.
Wie wahr. Versuchen wir stattdessen, eine Politik zu schaffen, die sich auf das Prinzip der Vernunft gründet – eine Politik, für die, wie die feministische Philosophin Deborah Heikes erklärt hat, nicht nur logische Konsistenz nötig ist, sondern auch »ein Maß an gesundem Urteilsvermögen, Selbstkritik, die Fähigkeit, Gründe zu nennen und in Betracht zu ziehen«. 40 Kurzum: echtes Überlegen. Oder, wie ein Moderatorentrainer wahrscheinlich sagen würde: Gefragt ist die Fähigkeit, gut genug zuzuhören, um Perspektiven zu verstehen, die sich grundlegend von den eigenen unterscheiden, und dann pragmatisch Berührungspunkte zu finden, ohne den Versuch zu machen, sein Gegenüber einfach zur eigenen Perspektive zu bekehren. Und das bedeutet, Demokratie als gemeinsame Problemlösung unter Menschen mit Respekt für den Umstand zu sehen, dass nicht jeder genau den gleichen Standpunkt vertritt.
Funktionieren sollte die Konsensfindung folgendermaßen: Man einigt sich zunächst auf ein gemeinsames Selbstverständnis, das heißt ein gemeinsames Ziel. So lässt sich der Entscheidungsprozess als Mittel zur Lösung gemeinsamer Probleme verstehen. Von dieser Warte aus betrachtet können selbst radikal unterschiedliche Perspektiven, die den Prozess durchaus erschweren mögen, auch eine enorme Ressource sein. Überlegen Sie mal, bei was für einem Team die Wahrscheinlichkeit einer kreativen Lösung für ein Problem größer ist: bei einer Gruppe von Leuten mit einer jeweils unterschiedlichen Sicht der Dinge oder bei einer Gruppe von Leuten, die alle genau der gleichen Ansicht sind?
Wie ich bereits bemerkt habe, sind Räume demokratischer Kreativität solche, in denen ausgesprochen unterschiedliche Menschen aus ausgesprochen unterschiedlichen Traditionen sich plötzlich zum gemeinsamen Improvisieren gezwungen sehen. Einer der Gründe dafür besteht darin, dass Menschen in solchen Situationen divergierende Annahmen darüber unter einen Hut bringen müssen, was Politik denn eigentlich ist. Dazu ein Beispiel.
In den 80er Jahren zog sich in Mexiko eine Gruppe angehender Guerillas maoistischer Provenienz aus den Städten zurück in die Bergregionen des Südwestens. Dort begannen sie revolutionäre Netze aufzubauen, indem sie zunächst den Frauen das Lesen und Schreiben beibrachten. Aus ihnen wurde schließlich die Nationale Befreiungsarmee der Zapatistas, die 1994 für eine vorübergehende Erhebung verantwortlich war. Ihnen ging es nicht um den Sturz der Regierung, sondern darum, eine freie Region zu schaffen, in der sich eine größtenteils aus Indios bestehende Bevölkerung daranmachen konnte, mit neuen Formen der Demokratie zu experimentieren. Es herrschten vom ersten Augenblick an unterschiedlicheAuffassungen zwischen den
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