Inside Occupy
beobachten konnte, sehr wenig. Die Polizei verschwindet, die Leute bezahlen keine Steuern mehr, ansonsten machen sie ziemlich genauso weiter wie zuvor. Ganz gewiss bricht kein hobbesscher »Krieg aller gegen alle« aus.
Und so lautet denn die eigentliche Frage, die wir uns stellen müssen: Warum gehen wir wie selbstverständlich davon aus, dass die Menschen, wenn sie nicht im Gehäuse eines bewaffneten Staates und einer ungleichen Gesellschaft leben, sich an die Gurgel gehen, obwohl sie es doch in Wirklichkeit gar nicht tun?
Die anarchistische Antwort darauf ist einfach. Wenn man Leute wie Kinder behandelt, neigen sie zu einem kindhaften Verhalten. Die einzig erfolgreiche Methode, die bislang ersonnen wurde, andere dazu zu bekommen, sich wie Erwachsene zu verhalten, besteht darin, sie zu behandeln, als wären sie bereits welche. Diese Methode ist nicht unfehlbar. Nichts ist unfehlbar. Aber es ist die einzige Methode mit einer echten Chance auf Erfolg. Und die historische Erfahrung mit den tatsächlichen Ereignissen in Krisensituationen demonstriert, dass selbst Menschen, dienicht in einer Kultur partizipatorischer Demokratie aufgewachsen sind, plötzlich ausgesprochen vernünftig werden, wenn man ihnen ihr Schießzeug oder die Möglichkeit, ihren Anwalt zu rufen, nimmt. Das ist eigentlich alles, was Anarchisten wirklich vorschlagen.
Kapitel 4
Fragen der Taktik und Strategie
Die Unmöglichkeit, einen Leitfaden für gewaltfreie Erhebungen zu schreiben, sozusagen eine moderne Ausgabe der »Regeln für Radikale« 1 , liegt auf der Hand. Wenn es eine Regel gibt, die sich auf zivilen Ungehorsam grundsätzlich anwenden lässt, dann die, dass es keine strikten Regeln gibt. Welche Art von demokratischem Prozess man einsetzt, hängt ganz vom Wesen der Gemeinschaft ab, in der man ihn zu praktizieren versucht, von den Erfahrungen der Teilnehmer, ihren Zielen, kulturellen und politischen Traditionen, ihrer Zahl, davon, welche Art von Raum zur Verfügung steht, und von einer ganzen Reihe unmittelbarer praktischer Belange mehr. Die Taktiken müssen flexibel bleiben, ständig neu erfun den werden, andernfalls wird die Bewegung welk und geht ein.
Dann wäre da noch die offensichtliche Tatsache – oder jedenfalls sollte sie offensichtlich sein, ist sie aber nicht –, dass eine bestimmte für eine Gemeinschaft geeignete Taktik für eine andere völlig ungeeignet sein kann. Zur Zeit meiner Arbeit an diesem Buch herrscht eine stürmische Debatte um die Black Blocs: ob es innerhalb eines antiautoritären Kontexts wie dem von Occupy ratsam sei, sich zu Gruppen schwarzgekleideter Maskierter zusammenzutun, um klarzustellen, hier ist ein Block von Leuten, der auch zu militanteren Taktiken bereit ist, zu Sprayaktionen, gelegentlichen Sachbeschädigungen oder dem Schulterschluss zum Schutz von Mitdemonstranten gegen die Polizei. Die ganze Debatte berücksichtigte die Tatsache nicht weiter, dass in 90 Prozent aller Besetzungen gar keine Black-Bloc-Taktiken eingesetzt wurden und dass Oakland, wo es zum größten Black Bloc kam, eine Stadt ist, die seit Jahrzehnten von einer extremen Brutalität der Polizei und militantem Widerstand seitens der armen Bevölkerung und besonders der afroamerikanischen Gemeinschaft gezeichnet ist. 2
Während meiner Zeit bei Global Justice im Jahr 2000 habe ich gelernt, dass ein hitziger Streit über Taktiken oft in Wirklichkeit ein versteckter Streit über Strategien ist. »Kann es im Einzelfall okay sein, ein Fenster einzuschmeißen?« Bei dieser Debatte während der Aktionen gegen die WTO in Seattle im November 1999 ging es in Wirklichkeit darum, wen das Global Justice Movement in den USA tatsächlich mobilisieren sollte und zu welchem Zweck: die Konsumenten der gebildeten Mittelschicht, die man zur Unterstützung von Fair Trade-Praktiken bringen könnte, oder eher potenziell revolutionäre Elemente, denen man nicht erst beizubringen brauchte, wie gewalttätig und korrupt das System ist; und denen die Aussicht auf einen erfolgreichen Schlag gegen das System genügte.
Die Erörterung derlei strategischer Fragen ist in diesem Buch fehl am Platz.– abgesehen vielleicht von der
einen
Bemerkung, dass die Organisatoren vor Ort, wer immer sie sein mögen, darüber nachdenken sollten,wie sich im Geiste der Solidarität mit allen anderen Angehörigen der 99 Prozent handeln lässt. Ansonsten will ich mich hier auf eine Reihe praktischer Ideen und Vorschläge konzentrieren, die aus meiner eigenen jahrzehntelangen
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