Inside Occupy
städtischen Intellektuellen wie etwa dem berühmten Subcommandante Marcos, für den Demokratie Mehrheitsentscheid und gewählte Vertreter bedeutete, und den Sprechern der indigenen Bevölkerung wie den Mam oder Chortí, deren Versammlungen seit jeher vom Konsens bestimmt waren. Sie bevorzugten ein System, in dem gewählte Delegierte jederzeit abberufen werden konnten, wenn ihre Gemeinschaften nicht länger der Ansicht waren, dass sie noch den gemeinsamen Willen verträten. Wie Marcos sich erinnert, musste man bald feststellen, dass es keine Einigung darüber geben konnte, was denn »Demokratie« tatsächlich bedeutete:
»Die Gemeinden arbeiten auf Demokratie hin. Aber das Konzept scheint recht vage zu sein. Es gibt viele Arten von Demokratie. Ich sage ihnen das immer wieder. Ich versuche ihnen zu erklären: ›Ihr könnt als Dorfgemeinschaften mit Konsens arbeiten.‹ Wenn sie auf eine Versammlung kommen, kennen sie einander, sie kommen, um ein gemeinsames Problem zu lösen.
›Aber das ist nicht überall so‹, sage ich ihnen. ›Leute führen dort unterschiedliche Leben, und sie nutzen die Versammlung für anderes, nicht, um ein Problem zu lösen.‹ Worauf sie ›nein‹ sagen, was aber bedeutet: ›Ja, bei uns funktioniert’s.‹ Und es funktioniert bei ihnen tatsächlich, sie lösen das Problem. Also schlagen sie ihre Methode der Nation und der ganzen Welt vor. Die Welt muss sich genauso organisieren … Und dagegen ist schwer anzukommen, weil sie nun mal ihre Probleme damit lösen.« 41
Nehmen wir diesen Vorschlag doch einmal ernst. Warum sollte Demokratie eigentlich kein Verfahren kollektiver Problemlösung sein? Wir mögen sehr unterschiedliche Auffassungen davon haben, worum es letztlich im Leben geht, aber es ist wohl für jeden ersichtlich, dass die Menschen auf diesem Planeten eine erkleckliche Zahl gemeinsamer Probleme haben (der Klimawandel fällt mir als besonders dringliches Problem ein, aber das ist bei Weitem nicht das einzige), bei denen wir gut daran täten, uns an einer gemeinsamen Lösung zu versuchen. Alle Welt scheint sich einig zu sein, dass es das Beste wäre, das demokratisch und im Geiste der Gleichheit nach Maßgabe vernünftiger Überlegungen zu erledigen. Warum also sollte es uns dann wie ein utopisches Hirngespinst anmuten, unsere Probleme tatsächlich so anzugehen?
Vielleicht sollten wir uns statt der Frage nach dem besten politischen System, das sich mit unserer gegenwärtigen Gesellschaftsordnung vereinbaren ließe, lieber die Frage stellen, welche gesellschaftlichen Arrangements für ein wahrhaft partizipatorisches demokratisches System nötig wären, das sich der Lösung unserer kollektiven Probleme widmen könnte. Das ist doch eigentlich eine überaus naheliegende Frage. Wir sind sienur nicht gewöhnt, weil man uns von Kindesbeinen an eingebläut hat, wie unvernünftig die Antwort darauf sei. Weil es darauf nur eine Antwort geben kann: Anarchie.
Es gibt durchaus einen Grund für die Annahme, dass die Gründer Amerikas Recht gehabt haben könnten: Es lässt sich nun mal kein politisches System nach den Prinzipien einer direkten, partizipatorischen Demokratie schaffen in einer Gesellschaft wie der ihren, die sich durch eine erhebliche Wohlstandsschere, durch den totalen Ausschluss weiter Teile der Bevölkerung (Frauen, Sklaven und Ureinwohner) und durch die Dominanz strikter Befehlsketten auszeichnete. Ebenso unmöglich ist das in einer Gesellschaft wie der unseren, in der ein Prozent der Bevölkerung 42 Prozent des Reichtums kontrolliert.
Spricht man in einem Raum voller normaler Menschen den Gedanken der Anarchie an, wird es stets jemanden geben, der einwendet, dass man ja wohl unmöglich auf Staat, Polizei und Gefängnisse verzichten könne. Sonst brächten die Leute einander doch sofort um. Dafür gibt es dann gemeinhin Beifall, weil es sich vermeintlich um eine Frage des gesunden Menschenverstands handelt. Das Merkwürdige an dieser Vorhersage ist, das sie sich empirisch testen lässt – ja, dass sie bereits oft empirisch geprüft wurde. Und sie erweist sich als falsch.
Es stimmt, es gibt einige Fälle wie etwa Somalia, wo der Staat zusammenbrach, als die Menschen sich bereits in einem blutigen Bürgerkrieg befanden, und wo der Zusammenbruch aller staatlichen Institutionen die beste Gewähr dafür bietet, dass die Kriegsherren nicht aufhören, einander umzubringen. In den meisten Fällen jedoch passiert, wie ich selbst hier und da im ländlichen Madagaskar
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