Inside Occupy
zur Arbeit, und mit einem Mal denkst du: Augenblick mal! Das ist doch absolut lächerlich! Und dann unterhältst du dich mit deinen Freunden, deiner Schwester, deinen Eltern, und du fragst dich: Was gibt’s denn noch alles, von dem man einfach angenommen hat, es ließe sich nur auf die eine, gewohnte Art machen? Wenn man die Dinge nicht als gegeben ansieht, dann können sie einem ganz schön blöd vorkommen. Das geht jetzt einer Menge von Leuten so.«
Und da dachte ich mir: Könnte es tatsächlich sein, dass das die Revolution ist? Wenn sich die Masse solche Fragen zu stellen beginnt? Das heißt, falls es überhaupt dazu gekommen ist …
Und was ist eine Revolution?
Das ist denn auch die große strittige Frage: Was ist denn eigentlich eine Revolution?
Wir haben immer gedacht, dass wir das wüssten. Eine Revolution sei eine Machtübernahme durch die eine oder andere Kraft aus dem Volk, die auf eine grundlegende Änderung des überkommenen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems abzielt. Und das unter dem Banner irgendeines visionären Traums von einer gerechten Gesellschaft. Wenn in unserer heutigen Zeit irgendwo eine Rebellenarmee in eine Stadt einfällt oder Massenaufstände für den Sturz eines Diktators sorgen, sind derartige Implikationen eher unwahrscheinlich. Falls es tatsächlich zu tiefgreifenden sozialen oder kulturellen Veränderungen kommen sollte – wie etwa beim Aufstieg des Feminismus –, dann geschieht das auf ganz andere Weise. Nicht dass es keine revolutionären Träume mehr gäbe. Aber zeitgenössische Revolutionäre glauben kaum an ein modernes Gegenstück zum Sturm auf die Bastille.
Werfen wir einen Blick auf die uns bekannte Geschichte aus. Waren Revolutionen tatsächlich das, was wir in ihnen sahen? Für mich ist derjenige, der am genauesten hingeschaut hat, der große Sozialhistoriker Immanuel Wallerstein, auf den das Konzept der Weltsystemanalyse zurückgeht. Und seiner Ansicht nach waren die Revolutionen der letzten 250 Jahre in der Hauptsache weltweite Transformationen des politischen Common Sense.
Bereits zur Zeit der Französischen Revolution, so Wallerstein, hat es einen gemeinsamen Weltmarkt gegeben und in zunehmendem Maße auch ein von den riesigen kolonialen Imperien dominiertes weltpolitisches System. Infolgedessen konnte der Sturm auf die Pariser Bastille sehr wohl nicht weniger profunde Auswirkungen auf Dänemark, ja selbst auf Ägypten haben als auf Frankreich selbst. Deshalb spricht er auch von der »Weltrevolution von 1789«, der die »Weltrevolution von 1848« folgte, bei der es nahezu gleichzeitig zu Unruhen und Erhebungen in fünfzig Ländern kam, von der Walachei bis Brasilien. In keinem einzigen Fall gelang den Revolutionären die Machtübernahme, aber hinterher tauchtenfast allenthalben von der französischen Revolution inspirierte Einrichtungen – namentlich allgemein zugängliche Systeme der Volksbildung – auf. Ähnlich war auch die russische Revolution von 1917 eine Weltrevolution, die nicht nur zum Sowjetkommunismus führte, sondern indirekt auch für den New Deal und die europäischen Wohlfahrtsstaaten verantwortlich war. Die letzte in der Reihe von Weltrevolutionen war die von 1968, die wie die von 1848 fast überall ausbrach, von China bis Mexiko; und auch sie brachte niemanden an die Macht und änderte trotzdem alles. Es handelte sich in diesem Fall um eine Revolution gegen die staatlichen Bürokratien und für die Untrennbarkeit von persönlicher und politischer Befreiung, als deren bleibendes Erbe sich wahrscheinlich der damals geborene moderne Feminismus erweisen wird.
Revolutionen sind also ein globales Phänomen. Was sie wirklich ändern, ist die fundamentale Auffassung davon, worum es in der Politik letztlich geht. Im Gefolge einer Revolution werden Vorstellungen, die man bis dahin ausschließlich mit randständigen Spinnern verbunden hatte, im Handumdrehen zur akzeptierten Basis der Diskussion.
Vor 1968 führten die Weltrevolutionen größtenteils zu veritablen Verbesserungen: Einführung des allgemeinen Wahlrechts, Ausbau der Bildungsinstitutionen, die Evolution des Wohlfahrtsstaats … Die Weltrevolution von 68 dagegen war – ob nun in Berkeley, Paris oder Berlin – eine Rebellion gegen Bürokratie und Konformität, gegen alles, was der menschlichen Fantasie Fesseln anlegte, ein Projekt nicht nur zur Revolutionierung des politischen oder wirtschaftlichen Lebens, sondern sämtlicher Aspekte menschlicher Existenz.
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