Inside Occupy
Nimbus des Scheiterns, der totalen Fruchtlosigkeit politischer Aktionen gegen das System das eigentliche Ziel gewesen sein sollte?
Dieser Gedanke kam mir zum ersten Mal während der Teilnahme an den Aktionen gegen den Weltwährungsfonds in der amerikanischen Bundeshauptstadt im Jahre 2002. So kurz nach 9/11 waren wir relativ wenige und entsprechend ineffektiv und die Übermacht der Polizei erdrückend; keiner hatte das Gefühl, die Tagungen tatsächlich blockieren zu können. Bei den meisten von uns hinterließ das Ganze eine vage Niedergeschlagenheit. Erst einige Tage später, ich unterhielt mich mit jemandem, der mit Teilnehmern an den Meetings befreundet war, erfuhr ich, was der Konferenz in Wirklichkeit ein vorzeitiges Ende bereitet hatte: Die Polizei hatte derart scharfe Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, dass man die Hälfe der Veranstaltungen gestrichen und die meisten tatsächlichen Meetings online durchgeführt hatte. Mit anderen Worten: Der Staat war zu dem Schluss gekommen, es sei von größerer Bedeutung, die Demonstranten mit dem Gefühl, versagt zu haben, nach Hause zu schicken, als den IWF tatsächlich tagen zu lassen. Und wenn man es recht bedenkt, so maß er damit den Demonstranten eine ganz außerordentliche Bedeutung bei.
Ist es möglich, dass diese Präventivhaltung gegenüber sozialen Bewegungen in Wirklichkeit ein allgemeineres Prinzip reflektiert? Was, wenn die, die gegenwärtig das Sagen haben, bewusst oder unbewusst (und ich vermute eher Ersteres) besessen sind von der Aussicht darauf, gesellschaftliche Bewegungen könnten einmal mehr den vorherrschenden politischen Common Sense infrage stellen?
Das würde jedenfalls eine Menge erklären. Fast überall auf der Welt hat man sich angewöhnt, die letzten dreißig Jahre als Zeitalter des »Neoliberalismus« zu bezeichnen – eine Zeit, die von der Wiederbelebung eines im 19. Jahrhundert ad acta gelegten Glaubens beherrscht wird, demzufolge freie Märkte und die Freiheit des Menschen letztendlich dasselbe sind. Das große Problem des Neoliberalismus ist von Anfang ein zentrales Paradoxon: Seiner Ansicht nach gebührt den ökonomischen Imperativen Priorität vor allen anderen; Politik ist vor diesem Hintergrund lediglich dazu da, die Bedingungen für das Gedeihen der Wirtschaft zu schaffen, indem sie den Markt walten und somit seinen Zauber entfalten lässt. Alle anderen Hoffnungen und Träume – etwa die von Gleichheit undSicherheit – sind dem Hauptziel wirtschaftlicher Produktivität zu opfern. Die globale Wirtschaftsleistung der letzten dreißig Jahre war freilich entschieden mittelmäßig. Mit ein, zwei spektakulären Ausnahmen (etwa der Chinas, das praktisch alle neoliberalen Vorschriften in den Wind schlug) lagen die Wachstumsraten weit unter denen des altmodischen, staatlich gelenkten, am Wohlfahrtsstaat orientierten Kapitalismus der 50er, 60er, ja sogar der 70er Jahre. 3 Seinen eigenen Maßgaben nach also war der Neoliberalismus bereits vor dem Kollaps von 2008 ein kolossaler Fehlschlag.
Nehmen wir andererseits die Aussagen der Führer dieser Welt nicht länger als bare Münze, sondern sehen wir im Neoliberalismus ein politisches Projekt, so wirkt er sofort spektakulär effektiv. Die Politiker, CEOs und Handelsbürokraten, die sich regelmäßig zu Gipfeln wie dem von Davos treffen, mögen jämmerlich gescheitert sein, wenn es darum geht, dieser Welt eine kapitalistische Wirtschaft zu geben, die tatsächlich den Bedürfnissen ihrer Bewohner gerecht werden (geschweige denn für Hoffnung, Glück, Sicherheit oder Sinn sorgen) könnte. Aber ihre Bemühungen, der Welt einzureden, der Kapitalismus – und zwar der finanzia lisierte , semifeudale Kapitalismus, wie wir ihn heute haben – sei das einzig praktikable Wirtschaftssystem, waren ein Bombenerfolg. So gesehen handelt es sich also um eine bemerkenswerte Leistung.
Wie ihnen das gelungen ist? Nun, die Präventivhaltung gegenüber sozialen Bewegungen ist eindeutig ein Teil der Bemühungen: Es gilt, unter allen Umständen zu verhindern, dass es auch nur den Anschein haben könnte, als hätten Alternativen – oder als hätten Leute mit Alternativen – Aussicht auf den geringsten Erfolg. Dies hilft auch bei der Erklärung der fast unvorstellbaren Investitionen in »Sicherheitssysteme« der einen oder anderen Art. Denn es ist ja eigentlich absurd, dass die USA, die nun wirklich keinen Rivalen mehr haben, heute mehr für Militär und Aufklärung ausgeben als während des Kalten Kriegs –
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