Inside Occupy
Besetzern und ihren liberalen Verbündeten – etwa MoveOn und anderen, die uns zu Hilfe geeilt waren – ein unausgesprochenes Einvernehmen, was man voneinander erwarten kann. Die Radikalen vermögen für genügend Feuer links von den Liberalen zu sorgen, um die Machthaber aufhorchen und die Liberalen als vernünftige Alternative erscheinen zu lassen; die Liberalen wiederum können den Radikalen das Gefängnis ersparen. In diesem Fall haben uns die Liberalen entschieden im Stich gelassen. Der große Aufschrei blieb aus. Teils mag das daran gelegen haben, dass es bei den Besetzern selbst drunter und drüber ging, als es plötzlich Platz, Nahrung und Unterkünfte für vertriebene Camper – will sagen: für nicht selten durch Prügel, Verhaftungen oder die Zerstörung von Besitz und Zuhause traumatisierte Menschen – zu finden galt. Es lag aber auch daran, dass viele unserer liberalen Verbündeten, die die Bewegung lieber weiterhin innerhalb der Mainstreampolitik gesehen hätten, eine strategische Entscheidung trafen, kein großes Theater um etwas zu machen, was effektiv einem umfassenden Angriff auf die Fundamente der Versammlungsfreiheit gleichkam.
Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, ist noch unklar, ob die Aktivisten das so einfach hinnehmen. Erst wenn dieses Buch erschienen sein wird, wird sich herausgestellt haben, ob die für den Frühling 2012 angedachte zweite Welle wirklich stattgefunden hat. Gut möglich, dass das Spiel noch längst nicht vorbei ist.
Die Erkenntnis jedoch, dass wir in einem Land leben, in dem die Rechte des Ersten Zusatzartikels unserer Verfassung nicht mehr garantiert werden, sondern selbst in den Augen der Liberalen, die sich gern als deren unentwegteste Verteidiger sehen, bestenfalls noch Manövriermasse sind, war für viele – selbst für mich, der doch eigentlich hinreichend desillusioniert ist – ein ernüchternder Schlag. Die Wirkung war umso ernüchternder, als gar so viele von uns, die sich von ihren gemäßigten Verbündeten im Stich gelassen sahen, selber Zeuge und Opfer der polizeilichen Gewalt wurden. Im unmittelbaren Gefolge des Räumungstraumas kamen all die Spannungen zum Ausbruch, die in den vorangehendenWochen, in denen Organisation und Verteidigung der Camps für ein gemeinsames Ziel gesorgt hatten, unterdrückt worden waren.
Ich spreche hier von Leuten mit der frischen Erinnerung daran, ihre liebevoll aufgebaute Bibliothek zerstört und von lachenden Streifenpolizisten in die Verbrennungsöfen gekarrt zu sehen; ich spreche hier von Leuten mit der frischen Erinnerung daran, ihre liebsten Freunde vor ihren Augen mit Stöcken geprügelt und in Eisen gelegt zu sehen, ohne ihnen helfen zu können, von Leuten mit der Erinnerung an Reizgasattacken (die zu lebenslangen Atembeschwerden führen können), Leuten mit der Erinnerung daran, hektisch neue Unterkünfte für die Vertriebenen suchen zu müssen, deren ganzer Besitz, so bescheiden er auch gewesen sein mochte, von den Schergen der Obrigkeit zerstört worden war, während das Heer der Mainstreammedien gehorsam hinter der Absperrung blieb. Etwa einen Monat lang herrschte darauf sowohl bei der New Yorker Vollversammlung als auch im Sprecherrat heillose Verwirrung.
So langsam beginnen wir uns wieder aufzurappeln. Manchmal will man verzweifeln, manchmal wird man zynisch. Manchmal aber auch kommt es zu Situationen und Begegnungen, aus denen sich der Nektar der Ermutigung saugen lässt. Erst vor wenigen Tagen lernte ich, nach einer gereizten Konferenz in irgendeinem Korridor, einen gesetzten, bärtigen Mann kennen, vielleicht um die 35, konservativ gekleidet, der mir sagte:
»Weißt du, spielt eigentlich es keine Rolle, ob es tatsächlich zu den Aktionen am 1. Mai kommt oder nicht – ich meine, ich hoffe es natürlich, wie jeder andere auch. Aber selbst wenn es nicht dazu kommt, wenn wir nie wieder etwas besetzen, selbst wenn heute alles zu Ende wäre – also, was mich anbelangt, so habt ihr bereits alles geändert. Jedenfalls für mich. Ich glaube, die amerikanische Kultur ist kurz davor, sich von Grund auf zu wandeln.«
»Tatsächlich? Aber wie viele Leute haben wir denn wirklich erreicht?«
»Schon, aber jeder, den’s erreicht hat, der wird nie wieder etwas so sehen wie zuvor. Ich habe das in meiner Arbeit bemerkt. Wir mögen ja hier die ganze Zeit über Meetings maulen, aber versuch nur mal wieder in die richtige Welt zurückzugehen, als hättest du nie ein wirklich demokratisches Meeting erlebt. Du gehst wieder
Weitere Kostenlose Bücher