Inside Polizei
Polizeiführung eintraten, gegen wen würde sich diese Wut dann richten? Gegen das Veranstaltungsgelände, die Schaufensterfronten der Innenstadt oder die eingesetzten Polizeikräfte? Eine weitere Eskalation war aus polizeilicher Sicht nicht ausgeschlossen. Auch aus diesem Grund wurde keine Hundertschaft aus dem Dienst entlassen. Im Gegenteil. Sämtliche noch freien Kräfte der Polizei in ganz Nordrhein-Westfalen wurden alarmiert und nach Duisburg beordert. Hundertschaften und sämtliche Bezirksreserven der Streifeninspektionen, jeder, der eine Uniform trug, packte seine Ausrüstungsgegenstände zusammen, sammelte seine Kräfte ein, schaltete Blaulicht und Sirene an und raste Richtung Duisburg.
Die aus sämtlichen Regionen NRWs zusammengerufenen Rettungskräfte bahnten sich nach und nach ihren Weg nach Duisburg und reihten sich in einer schier endlosen Kolonne auf der Autobahn neben dem Veranstaltungsgelände auf. Sie nahmen Verletzte auf und brachten sie in ein freies Krankenhaus, welches sie von der Feuerwehrleitstelle zugewiesen bekamen. Die Sanitäter und Ärzte übergaben die Verwundeten an ihre Kollegen vor Ort, kehrten zurück zum Veranstaltungsgelände, ordneten sich in der Kolonne ein und warteten auf den nächsten Versehrten.
In der anschließenden Analyse des Großeinsatzes der Rettungskräfte wurde erst der Kraftakt deutlich, den diese Frauen und Männer an diesem Tag zu bewältigen hatten. Experten berichteten von 5600 Patientenkontakten – am gesamten Tag – und 575 Krankentransporten. Den Sanitätern und Ärzten gelang es, 80 Schwerverletzte innerhalb von zweieinhalb Stunden in weiterbehandelnde Krankenhäuser zu transportieren und 300 Menschen in den Notlazaretten im Tunnel medizinisch erstzuversorgen. Nur dieser gelungene Rettungseinsatz verhinderte noch katastrophalere Folgen, als ohnehin schon zu beklagen waren: über 500 Verletzte und 21 Tote. Die Ministerpräsidentin NRWs gab später die Ergebnisse der Obduktionen bekannt: »Alle Todesopfer sind an einer Brustdruckkompression gestorben, an einer Brustquetschung.«
Von der Anfangsplanung einer normalen Frühschicht blieb bei den Polizeieinheiten nichts mehr übrig. Die ersten eingesetzten Hundertschaften waren inklusive Anreise schon über 20 Stunden im Dienst, bevor sie von nachrückenden alarmierten zusätzlichen Kräften herausgelöst wurden und das Chaos langsam, aber mittlerweile kontrolliert abgearbeitet wurde. Jede Hundertschaft blieb, solange sie benötigt wurde. Auf die Dauer des Einsatzes oder die persönliche Gemütsverfassung eines jeden einzelnen Polizeibeamten wurde schon lange keine Rücksicht mehr genommen. Jeder verharrte auf seinem Posten, solange es keinen anderslautenden Befehl gab. Und das dauerte.
Um 23.00 Uhr verstummte dann endlich die Musik, und die Loveparade endete. Mitternacht war bereits vorbei, als Leichenwagen in den Tunnel rollten und die Verstorbenen aufnahmen, die bis jetzt dort gelegen hatten. Auch die Tatortaufnahme war abgeschlossen. Erst einige Zeit danach wurde Patricks und Ulrikes Hundertschaft aus dem Einsatzraum entlassen, aber trotz der relativen Nähe von knapp 80 Kilometern war an eine Heimreise der Einheit nicht zu denken. Dagegen sprachen die physische und psychische Belastung aller Beamten und die Überschreitung sämtlicher Dienst- und Ruhezeiten gerade auch der Fahrer. Die Einsatzleitung hatte daher für Patricks und weitere Hundertschaften Hotels organisiert, die sie mitten in der Nacht aufnehmen und noch etwas Verpflegung gewährleisten konnten. Die erschöpften Polizisten stellten ihre Autos auf dem Hotelparkplatz ab und kramten ihre Sachen zusammen. Niedergeschlagen und wortkarg bezogen sie ihre Zimmer. Der letzte Befehl hieß ausruhen und schlafen, Kräfte sammeln.
Patrick löste das Versprechen ein, das er seiner Frau gegeben hatte, und rief sie nach Beendigung des Einsatzes an. Es war gegen 1.00 Uhr nachts, und Britta lag in einem unruhigen Schlaf auf dem Sofa, als das Telefon klingelte. Erst nachdem Patrick ihr versichert hatte, dass er den Einsatz unbeschadet überstanden hatte, wechselte sie hinüber ins Schlafzimmer und schlief beruhigt ein. Sie versprachen sich, ihr Mitternachtsdate am folgenden Wochenende nachzuholen, falls kein Einsatz dazwischenkam. Nach dem Telefonat raffte sich Patrick noch einmal auf und traf sich mit weiteren Kollegen zum traditionellen Dienstabschlussbier. Es wurden drei, da Patrick keinerlei Verlangen verspürte, sich wach und allein mit seinen Gedanken
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