Inside Polizei
vergilbten und abgetretenen Linoleumboden. Es roch nach Desinfektionsmittel und altem Tabak, das Krächzen von Funkgeräten und das Summen von Akkuladegeräten durchschnitten die Stille, eine Freitagnachtschicht stand bevor. Paul ärgerte sich wortlos über die vom Dienstgruppenleiter verkündete Einteilung der Streifenwagenbesatzung. Natürlich, ihn erwischte es wieder. Anstatt wie erhofft einem der zehn Kollegen drückte ihm der Chef Karin aufs Auge. Ausgerechnet Karin, die unerfahrenste der sechs Frauen in seiner Schicht. Die Unerfahrenheit machte Paul nicht viel aus, denn Erfahrung besaß er mit seinen 42 Jahren genug. Aber Karin war unbeliebt in der Einheit. Ihre Aufgaben bewältigte sie mehr schlecht als recht, dazu war sie nervtötend korrekt, und zu allem Überfluss verfügte sie eindeutig über den dicksten Arsch der gesamten Dienststelle.
Das alles in einer Freitagnachtschicht am ersten Wochenende eines Monats – Oktober 2010. Zahllose Statistiken belegen das hohe Einsatzaufkommen an solchen Tagen und erklären dies ganz einfach damit, dass zu diesem Zeitpunkt Geld da ist. Ob dies durch ermüdende Arbeit schwer verdienter Lohn ist oder aus einem Sozialtransfer des Staates stammt, spielt eine untergeordnete Rolle. Das Geld wechselt auf jeden Fall zum Monatsanfang den Besitzer. Und bei vielen Personen, die später Anlass von Polizeieinsätzen werden, mit der gleichen Folge. Das ungeduldig erwartete Geld wird schnellstmöglich in Alkohol und Drogen umgetauscht. Auf jeder Polizeiwache Deutschlands herrscht an diesen Wochenenden Hochbetrieb, auch Pauls Innenstadtwache war heute Nacht von diesem Phänomen betroffen. Die Streifenwagen rasten in der Dunkelheit von einem Einsatz zum nächsten. Zeit, die anfallende Schreibarbeit danach auf der Wache zu erledigen, blieb nicht.
Paul war das jedoch nur recht, denn so kam er gar nicht erst in die Verlegenheit, eine Konversation mit Karin führen zu müssen. Ihre spärlichen Wortwechsel betrafen ausschließlich dienstliche Belange, den letzten Einsatz oder Vermutungen über den als Nächstes anstehenden. Auch Karin verspürte keinen Drang nach einem persönlichen Gespräch mit Paul. Er war als Heißsporn und Chauvi bei den Kolleginnen bekannt und berüchtigt. Jemand, der nach dem zweiten Bier die gute alte Zeit vermisste, als Polizisten noch Männer sein durften. Männer, die Spindtüren mit Tittenkalendern verschönerten, regelmäßig Trinkgelage veranstalteten und auch einer deftigen Kneipenschlägerei nicht zwangsläufig aus dem Weg gingen. Karin hatte diese Art von Kollegen satt. Seit ihrer Ausbildungszeit machten sich solche Dinosaurier des Polizeidienstes über sie lustig. Sie wusste selbst, dass sie keine Modelmaße besaß. Und an manchen ehrlichen Tagen gestand sie sich sogar ein, dass sie – gerade für ihren Beruf – mit fast 70 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,69 Meter deutlich zu schwer war. Sie wollte dies auch gern ändern, aber mit ihren 27 Jahren, dem kräftezehrenden Schichtdienst und der damit einhergehenden psychischen Belastung fiel es ihr verdammt schwer. Schokolade und Süßigkeiten waren ihre ständigen Begleiter und halfen ihr oft, die flatternden Nerven etwas zu beruhigen.
Schon jetzt war sie von der täglichen Polizeiarbeit schwer enttäuscht und desillusioniert. Dafür war sie nicht Polizeibeamtin geworden. Während ihrer Ausbildungszeit war sie in ihrer Ansicht, einen gesellschaftlich relevanten Beruf gewählt zu haben, auf Schritt und Tritt bestärkt worden. Von dieser ehrbaren Einstellung war nach nur einem Jahr Streifendienst allerdings nichts mehr übrig geblieben. Zu gravierend waren die Unterschiede zwischen den theoriegeprägten Lehrjahren und der rauen Wirklichkeit in einer Großstadt. Das positive Leitmotiv »Schützen und Helfen« kam ihr jetzt nur noch wie eine dämliche Postkartenweisheit vor.
Die Realität sah anders aus: klauende Kids ohne jegliches Schuldbewusstsein. Und nachdem man diese zu Hause abgeliefert und einen Elternteil kennengelernt hatte, war einem sofort bewusst, dass man diese Adresse auch in Zukunft wohl noch öfter ansteuern würde.
Autounfälle, bei denen eher die vorherrschende Sternenkonstellation als Unfallursache angeführt wurde, anstatt eigenes Fehlverhalten auch nur ansatzweise einzuräumen. Einmal im Monat erwischte es dabei jemanden wirklich schwer. Die Bilder von verstümmelten und abgetrennten Gliedmaßen konnte Karin kaum verarbeiten. Der Geruch von verbranntem Fleisch und Haaren, der
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