Inside Polizei
schmerzvoll und unbestreitbar auf ihre körperlichen Defizite hingewiesen. Der oft vorwurfsvolle, strafende Blick der Kollegen, der ihrem mangelhaften körperlichen Einsatz galt, erhöhte ihr eigenes schlechtes Gewissen um ein Vielfaches.
Nicht selten verließ Karin solche Wohnungen mit einem ungläubigen Kopfschütteln.
Stoppte der Wüterich seine Beschimpfungen, Drohungen und Angriffe auch nicht gegenüber den Polizisten, blieb ihnen keine andere Wahl. Sie mussten ihn festnehmen, und er verbrachte die Nacht dann zur Gefahrenabwehr und Ausnüchterung in Polizeigewahrsam. Gelegentlich führte die durchgeführte Festnahme zu lautstarken Solidaritätsbekundungen seiner zuvor geschlagenen Frau.
»Lasst meinen Mann in Ruhe. Er bleibt bei mir.«
Zu gerne würde Karin dieser geschrienen Aufforderung nachkommen, aber alles Jammern half nichts mehr. Jetzt war es zu spät, der Mann musste die Nacht hinter schwedischen Gardinen verbringen und der Polizei damit eine Menge zusätzliche Arbeit und Ärger bescheren.
Eine weitere stetig anwachsende Zahl von Einsätzen wurde von gewalttätigen Jugendgangs ausgelöst. Dieses Umfeld war Karin völlig fremd. Sie war nämlich in einer Kleinstadt aufgewachsen, in der die Welt noch weitestgehend in Ordnung war. Jedenfalls gab es dort keine Viertel, die man vorsichtshalber besser meiden sollte. Selbst in der im Vergleich zu anderen Städten noch relativ beschaulichen Großstadt, in der ihr Streifenbereich lag, gab es Bezirke, um die Otto Normalbürger nach Einbruch der Dunkelheit einen großen Bogen machte. Zum Beispiel der östlich vom Zentrum gelegene Stadtteil. In den 80er- und 90er-Jahren war dies das Gebiet einer deutschen Jugendgang namens Blue Boys gewesen, die einen schlagkräftigen Bestandteil der Hooliganszene des heimischen Fußball-Bundesligisten darstellte. Mitte der 90er konnte sich diese Bande nur mit größter Mühe gegen eine immer zahlreicher werdende Gruppe von türkischen Einwandererkids durchsetzen. Diese beiden rivalisierenden Banden wurden dann zu Anfang des neuen Millenniums von einer neuen, noch gewalttätigeren Gruppierung verdrängt: den Russlanddeutschen. Wenn sich die deutschen Jungs um fünf Uhr auf ein Bier trafen, kreisten bei den Russen schon die Wodkaflaschen, anstelle eines Joints rauchten sie Heroin, und anstatt am Wochenende den Kokainkonsum zu steigern, spritzten sie Heroin.
Eine Hemmschwelle bei der Gewaltanwendung existierte für diese Kerle nicht mehr, der Drogenrausch spülte eine unkontrollierbare Skrupellosigkeit an die Oberfläche. Ihr Lebensziel bestand nicht aus einem Reihenendhaus und einem schicken Wagen in der Auffahrt, sondern aus der Aufnahme in die Vory v Zakone, der Diebe im Gesetz, der russischen Mafia.
Ein normaler polizeilicher Umgang mit diesen Leuten war unmöglich. Sie projizierten alles, was ihnen von Staats wegen an Sanktionen auferlegt wurde, auf den Uniformierten, der das staatliche Gewaltmonopol im Augenblick repräsentierte und durchsetzen sollte, den Polizeibeamten.
Ärger mit Ämtern aller Art, gekürzte Sozialbeiträge, Strafanzeigen, Bewährungswiderrufe und Haftstrafen, jeder von den Jungs war schon ein Dutzend Mal Adressat staatlicher Zwangsmaßnahen geworden. Und dann besaß die verachtete Staatsmacht auch noch die Frechheit, ihnen immer mehr Polizeibeamtinnen auf den Hals zu schicken – Frauen! Dabei waren sie doch echte Kerle, und Anweisungen von Frauen entgegenzunehmen, das war undenkbar.
Freitagnacht, 1.30 Uhr, das Funksprechgerät riss Karin aus ihren Gedanken. Die Leitstelle meldete einen Notruf.
»11/23 von 11/01. Fahren Sie sofort in den östlichen Stadtteil. Dort soll in einer Menschenmenge von 30 Personen eine schwere Schlägerei mit zwei Beteiligten stattfinden. Die Nutzung von Sonderrechten wird angeordnet. Der Anrufer weigerte sich, seinen Namen zu nennen. 11/01 Ende.«
Paul beschleunigte den Automatik-Streifenwagen per Kick-down. Gleichzeitig schaltete er mit der rechten Hand Blaulicht und Sirene an. Karin bediente wie vorgeschrieben als Beifahrer das Funkgerät und hob den Sprechfunk zum Mund, um der Leitstelle den eingegangenen Auftrag zu bestätigen. Besser gesagt, sie versuchte es, denn Paul ließ es nicht zu. Ruppig riss er Karin das Funkgerät aus der Hand, während der Streifenwagen mit 100 km/h die Ausfallstraßen entlangschoss.
»11/01 von 11/23. Sind weitere Wagen zur Unterstützung in der Nähe?«, erkundigte er sich vorausschauend.
»Nein, negativ, 11/23, alle anderen Wagen sind
Weitere Kostenlose Bücher