Inside WikiLeaks
Formationen gewuchert, und niemand blickte mehr durch. Am wenigsten Julian, der sich schon lange nicht mehr wirklich um die Technik kümmerte.
Die Entscheidung, offline zu gehen, fiel einhellig. Wir wollten der Welt damit signalisieren: Wenn ihr wollt, dass wir weitermachen, dann müsst ihr uns jetzt ein wenig unterstützen. So eine Art Streik. Es gab gar keine Diskussion darüber.
Am 23. Dezember 2009 stellten wir die Seite ab. Und wir hatten alle nach langer Zeit das erste Mal Ruhe. Es tat gut, sich endlich einmal einzugestehen, dass es so nicht weitergehen konnte.
Die ganzen Monate über hatte mich eine unsichtbare Kraft an den Rechner gezogen, in den Chat, ins Internet. Jeden Tag war ein neues Problem aufgetaucht, und es hatte überhaupt gar keine Zeit gegeben, wenigstens mal einen Tag lang seinen Blick abzuwenden. Und als mich WL kurz vor Weihnachten das erste Mal seit zwei Jahren aus seinen Fängen ließ, war das ein unfassbares Gefühl. Ich konnte wieder auf andere Dinge blicken. Es war sehr entspannend. Aber auch etwas ungewohnt. Es fehlte etwas, definitiv.
Ich fuhr über die Feiertage zu meiner Familie. Ich legte die Füße hoch und tat gar nichts außer zu essen und Geschenke auszupacken. Ich verbrachte mal wieder Zeit mit meiner Freundin.
Wenn wir uns in den Monaten zuvor gesehen hatten, was nicht mehr allzu häufig vorgekommen war, hatte das geheißen, dass ich zwar den Raum mit ihr teilte, viel mehr aber auch nicht. Wenn ich arbeitete, saß sie hinter mir auf dem Bett, die Beine gekreuzt, und guckte nachdenklich auf meinen Rücken. Irgendwann sagte sie: »Ich gehe bald schlafen.«
Ich sagte: »Mach!« und arbeitete weiter.
Sie wartete eine weitere halbe Stunde. Dann erhob sie sich zögernd, kam zu mir an den Schreibtisch, drückte mir von hinten einen Kuss auf die Wange und legte sich ins Bett. Ich reagierte kaum, ließ auch das Schreibtischlicht brennen, drehte nur die Lampe ein wenig mehr Richtung Boden.
Ich legte mich spät in der Nacht dazu und war Sekunden später schon im Tiefschlaf. Ich hatte nicht das Bedürfnis, mit ihr zusammen einzuschlafen. Mir fehlte eigentlich auch nichts. Mich plagte nur ein schlechtes Gewissen, und das wurde langsam schlimmer. Es war ein schleichender Prozess, aber sie muss sich irgendwann kaltgestellt gefühlt haben.
Wenn ich sage, dass ich heute wohl alles noch einmal ganz genauso machen würde, mit allen Fehlern, dann würde ich unsere Beziehung davon unbedingt ausnehmen. Sie hat wirklich einen hohen Preis für mein WL -Engagement gezahlt. Ich weiß, dass es ihr nicht gut ging, nachdem ich mich wenig später von ihr getrennt habe. Auch sie wollte ihre Zeit immer sinnvoller einsetzen als in einem Büro, und ihr lag ebenso viel an einer besseren Welt wie mir.
Ich habe ihr in meiner Begeisterung damals suggeriert, dass sie später einmal Teil des Projekts werden würde. Wir sprachen oft darüber, dass, sobald wir auf sicheren Füßen stünden, Gehälter zahlen und Büroräume mieten könnten, sie in unseren Augen diejenige wäre, die das Ganze perfekt organisieren könnte. Ich glaubte in dem Moment alles, was ich sagte, ich hoffte darauf – doch für sie muss es wie ein Versprechen geklungen haben.
Sie war ein zurückhaltender Mensch, der sich sehr auf unsere Beziehung konzentrierte und wenig Zeit mit anderen Freunden verbrachte. Sie ließ mir viele Freiheiten. Man ist verpflichtet, die Erwartungen, die man in anderen Menschen weckt, auch zu erfüllen. Bei ihr habe ich in diesem Punkt versagt. Es tut mir noch heute unendlich leid.
Dann kam der »26C3«, also der 26. Congress des Chaos Computer Clubs. Das war für mich das Highlight des Jahres, und diesmal mehr als je zuvor. So musste es sich anfühlen, wenn einem jemand eine Ladung Endorphine direkt mit der Spritze ins Gehirn jagt.
Wir hatten sozusagen die Keynote, den größten Vortrag, den Hauptevent zur besten Uhrzeit am Tag. Um alle Zuhörer unterzubringen, hätte man einen zweiten Boden in den Vortragssaal einziehen müssen.
Wir hatten vorher an das Publikum Zettel mit Nummern ausgeteilt. Ich erzählte dann, dass wir in Island angesprochen worden wären von der »Weihnachtsgang«, die uns einen Leak übermittelt hätte: eine Liste mit allen Leuten, die nächstes Jahr vermutlich keine Weihnachtsgeschenke bekämen, weil sie ihren Pflichten der Gesellschaft gegenüber nicht genügend nachgekommen seien. Jeder mit einer Nummer hätte jetzt ein Jahr lang Zeit, seine Schuld abzuarbeiten. Wir würden dann
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