Inspector Alan Banks 05 In blindem Zorn
mehr Vorsicht. Es hörte erst auf, als sie zwölf war und ihre erste Periode hatte.«
»Danach verlor er das Interesse?«
»Nein. Sie war eine Frau geworden. Das machte ihm Angst. So hat es jedenfalls Ursula gesehen.«
Banks zog an seiner Zigarette und schaute raus zur Peepshow. Jetzt standen zwei torkelnde Teenager in Rockerlederjacken im Foyer und stritten mit dem Kassierer. Ein Mädchen schlich sich an ihnen vorbei nach draußen. Dem Anblick ihres blassen, verhärmten Gesichts nach zu urteilen, das Banks im Straßenlicht erkennen konnte, war sie nicht älter als siebzehn oder achtzehn. Sie zog einen kurzen, schwarzen, glänzenden Plastikmantel fest um ihren dünnen Körper und hielt ihre Handtasche dicht an sich. Sie sah hungrig, frierend und müde aus. Soweit er erkennen konnte, trug sie weder Strümpfe noch Strumpfhosen. Tatsächlich sah sie bis auf den Mantel nackt aus, was wahrscheinlich bedeutete, dass sie auf dem Weg zu einem anderen Club in der Nähe war, um dort denselben Job zu machen - nachdem sie unterwegs kurz irgendwo für einen Schuss angehalten hatte.
»Gary Hartley hat Constable Gay berichtet, dass seine Schwester ihn immer gehasst hat«, sagte Banks fast zu sich selbst. »Er erzählte, sie hätte sogar mal versucht, ihn als Baby beim Baden zu ertränken. Anscheinend hat sie ihm das Leben zur Hölle gemacht. Und ihrer Mutter auch. Gary beschuldigte sie, seine Mutter so früh ins Grab gebracht zu haben. Ich habe ihn selbst kennen gelernt. Er ist ein äußerst verhaltensgestörter junger Mann.«
Verónica gab darauf keine Antwort. Sie hatte ihren Cointreau ausgetrunken und konnte sich jetzt nur noch mit dem Kaffeesatz in der Tasse ablenken. Der Ober kam mit der Rechnung herangeschlichen.
»Was ich gerne wissen würde«, fuhr Banks fort und nahm die Rechnung entgegen, »ist, ob Gary klar war, warum sie ihn von Anfang an so behandelt hat. Stellen Sie sich nur mal die psychologische Wirkung vor: Da war er plötzlich da, ein neues und fremdes Wesen, Wurzel und Ursache für alles, was sie durch ihren Vater erleiden musste. Ihre Mutter hatte sie im Stich gelassen, und als sie wieder zurückkam, war sie viel mehr an diesem jammernden, heulenden kleinen Balg interessiert als an Caroline. Meine Schwester kam auf die Welt, als ich sechs Jahre alt war, und ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie eifersüchtig ich damals war. Nach dem, was ihr Vater mit ihr gemacht hat, muss es für Caroline noch unendlich viel schlimmer gewesen sein. Natürlich konnte es Gary zu der Zeit nicht gewusst haben, wahrscheinlich für viele Jahre nicht - aber hat Caroline ihm jemals erzählt, dass ihr Vater sie sexuell missbraucht hat?«
Veronica wollte etwas sagen, unterbrach sich aber gleich wieder. Sie blinzelte auf Banks' Zigarette, als wolle sie eine haben. Als sie keine Möglichkeit fand, sich zu verstecken, hauchte sie schließlich: »Ja.«
»Wann?«
»Sobald sie sich sicher war, dass es stimmte.«
»Wann war das?«
»Ein paar Wochen bevor sie starb.«
* II
Banks begleitete Veronica zur Charing Cross Road und setzte sie in ein Taxi nach Holland Park, wo sie bei einer Freundin übernachten wollte. Nachdem sie weg war, blieb er einen Augenblick stehen, um die Nachtluft einzuatmen und die kalten Regennadeln auf seinem Gesicht zu spüren; dann ging er zurück in die Old Compton Street ins Eldorado der Clubs. Es war ungefähr halb elf Uhr am Freitagabend, und die meisten Freier verließen bereits die Kneipen am Leicester Square, um den Verlockungen weiterer Drinks und der Spur des Sex zu folgen.
In einer zwielichtigen Nebengasse der Greek Street, die sich vor allem durch den Müll auf den Gehwegen auszeichnete, fand Banks das Hole-in-the-Wall. Bemerkenswert. Den Club hatte es schon zu seiner Zeit bei der Sitte gegeben und er sah jetzt immer noch so aus wie damals. Ein solches Durchhaltevermögen hatten nicht viele, eigentlich nur die alten Traditionsclubs, die mittlerweile schon Geschichte waren, wie die Raymond Revue Bar.
Er streifte ein Stück Zeitung von seiner Schuhsohle, das sich dort festgeklebt hatte, und ging die Stufen hinab. Der enge Eingang an der Straße war von schwachen Glühbirnen beleuchtet, in einem Glaskasten hingen Fotos gesunder, lächelnder, vollbusiger junger Frauen, einige von ihnen in Leder, andere in Spitzenunterwäsche. Das Schild versprach eine Oben-ohne-Bar und »TOTAL NACKTE MÄDCHEN AUF DER BÜHNE«.
Innen war das
Weitere Kostenlose Bücher