Inspector Alan Banks 05 In blindem Zorn
Rückseite in die enge Straße hinter der Kirche. Vor Kälte zitternd, zog sie die Schultern hoch und ging um die Ecke.
Der gesamte gestrige Abend kam ihr jetzt wie ein Albtraum vor. Zuerst war sie, ohne überhaupt zu überprüfen, ob der Anruf echt war oder nicht, mit wehenden Fahnen aus dem Revier gerannt. Dann war sie geradewegs zu Banks gelaufen. Natürlich hatte sie Gristhorpe an der Theke gesehen, aber sie konnte ihn nicht ansprechen, weil sie Angst vor ihm hatte. Sie wusste, dass er eigentlich im Ruf stand, ein gutmütiger Mensch zu sein, aber auf sie wirkte er einschüchternd. Er machte einen so reservierten, so selbstsicheren und so handfesten Eindruck - genau wie ihr Vater.
Stolz war sie lediglich auf ihre Reaktion am Tatort. Sie war nicht ohnmächtig geworden, obwohl es ihre erste Leiche war, noch dazu eine übel zugerichtete. Sie hatte es geschafft, die ganze Sache mit einem distanzierten, klinischen Blick zu betrachten. Sie hatte die Experten bei der Arbeit beobachtet und die Atmosphäre des Tatorts in sich aufgenommen. Es hatte nur einen schwierigen Moment gegeben - als die Leiche hinausgetragen worden war; aber bei einem solchen Anblick blass zu werden, war durchaus verzeihlich. Nein, ihr Verhalten am Tatort war beispielhaft gewesen. Sie hoffte, dass Banks und Gristhorpe nicht nur ihre Fehler, sondern auch ihr Standvermögen bemerkt hatten.
Und während die anderen jetzt in der Mordsache weiter ermittelten, musste sie einen Fall von Vandalismus untersuchen. Das war nicht fair. Sicher, sie war neu im Team, aber das konnte doch nicht bedeuten, dass sie sich ausschließlich um die Bagatellverbrechen zu kümmern hatte. Wie sollte sie weiterkommen, wenn sie nicht an den wichtigen Fällen arbeiten durfte? Sie hatte bereits so viel für ihre Karriere geopfert, dass sie den Gedanken an ein berufliches Scheitern gar nicht ertragen konnte.
Schließlich erreichte sie den Hintereingang, der in einer Seitengasse am nördlichen Ende der York Road lag. Die Hintertür war offensichtlich aufgestemmt worden. Das dürftige Schloss war verbogen, das Holz des Türrahmens abgesplittert. Susan folgte einem langen Korridor, der nur von ein paar 60-Watt-Birnen erhellt wurde und an dessen Ende sie Stimmen hörte. Sie kamen aus einem Raum, der rechts von ihr lag. Er hatte hohe Decken, hervorstehende Rohre an den nackten, mit Salpeter überzogenen Backsteinmauern und war ebenfalls schwach erhellt. Der Raum roch nach Staub und Mottenkugeln. Sie sah einen Mann und eine Frau, die sich über einen großen Schrankkoffer beugten. Als sie hereinkam, richteten die beiden sich auf.
»Sind Sie von der Polizei?«, fragte der Mann.
Susan nickte und zeigte ihren Dienstausweis.
»Ich muss zugeben, eine Frau hätte ich nicht erwartet«, erklärte er.
Susan war drauf und dran, ihm eine gepfefferte Antwort zu geben, doch er hob abwehrend seine Hand. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Das war nicht als Vorwurf gemeint. Ich bin kein Sexist. Ich bin nur überrascht.« Er schielte sie im schwachen Licht an. »Einen Augenblick, sind Sie nicht...?«
»Susan Gay«, sagte sie, die ihn jetzt, da ihre Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, erkannte. »Und Sie sind Mr Conran.« Sie wurde rot. »Es erstaunt mich, dass Sie sich an mich erinnern. Ich war ja nicht gerade eine Ihrer besten Schülerinnen.«
Mr Conran hatte sich in den zehn Jahren, die vergangen waren, seit er der damals sechzehnjährigen Susan an der Gesamtschule von Eastvale Schauspielunterricht erteilt hatte, nicht sehr verändert. Ungefähr zehn Jahre älter als sie, sah er in seinen weiten schwarzen Kordhosen und dem dunklen Pullover mit Polokragen, an dessen Schulter eine Naht aufging, immer noch auf eine künstlerische Art gut aus. Noch immer hatte er diese verletzliche, dürre, halb verhungerte Statur; an die sich Susan so gut erinnerte; ansonsten aber wirkte er ziemlich gesund. Sein kurzes blondes Haar war glatt nach vorne gekämmt; darunter schauten intelligente, ironische graue Augen aus einem blassen, hohlwangigen Gesicht. Susan hatte die Theaterkurse gehasst, aber für Mr Conran hatte sie geschwärmt. Die anderen Mädchen meinten, er wäre schwul, aber das behaupteten sie von allen Lehrkräften der Literatur- und Kunstseminare. Susan hatte ihnen nicht geglaubt.
»James«, sagte er und streckte seine Hand aus, um ihre zu schütteln. »Ich denke, wir können auf die Förmlichkeiten zwischen Lehrer und Schüler mittlerweile
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