Inspector Alan Banks 06 Das verschwundene Lächeln
starrte sie einfach nur an und ging einen Schritt zurück, als die Frau ihren Regenmantel aufknöpfte. Wie benommen stellte sie den Schirm neben die Schuhe auf die Fußmatte, nahm dann der Frau den Regenmantel ab und hängte ihn auf.
Lenora Carlyle war eine stämmige Frau. Sie trug eine grob gestrickte schwarze Strickjacke, die mit roten und gelben Rosen gemustert war, schwarze Hosen und eine Halskette mit irgendeinem religiösen Symbol. Auf jeden Fall kam Brenda das seltsam aussehende Kreuz mit der Schlaufe obendrauf so vor. Lenora glättete ihre Strickjacke und lächelte, wobei fleckige und schiefe Zähne zum Vorschein kamen.
Brenda führte sie ins Wohnzimmer und schaltete die Musik aus. Sie war noch immer ein wenig beunruhigt. Im Angesicht des Übersinnlichen ging es ihr immer so. Sie wusste nicht recht, ob sie daran glaubte oder nicht; sie hatte jedoch schon oft genug von seltsamen Dingen gehört, die Menschen widerfahren waren und über die sie sich nur wundern konnte. Wie damals, als ihre frühere Freundin Laurie Burton gerade in der Nacht zum ersten Mal seit Jahren von ihrem Vater geträumt hatte, als er starb.
Nachdem sie sich gesetzt hatten, zündete Brenda sich eine Zigarette an. »Was meinen Sie mit Hilfe?«, fragte sie dann. »Wie können Sie helfen?«
»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte Lenora, »aber ich bin mir sicher, dass ich es kann - wenn Sie mich lassen.«
»Wie viel wollen Sie dafür?«
»Ich will gar nichts.«
Das machte Brenda misstrauisch, aber sie ließ es dabei bewenden. »Was soll ich tun?«, fragte sie.
Lenora legte freundschaftlich eine Hand auf ihr Knie. »Nichts, meine Liebe, Sie sollen sich nur entspannen und öffnen. Sind Sie gläubig?«
»Ich ... ich weiß nicht.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Der Herr kennt alle seine Schäfchen. Haben Sie etwas von Gemma? Einen persönlichen Gegenstand?«
»Was denn zum Beispiel?«
»Nun, Haare wären am besten, aber vielleicht haben Sie ein Kleidungsstück oder ein Lieblingsspielzeug von ihr. Etwas, wozu sie einen starken Bezug hatte, was ihr etwas bedeutete.«
Brenda fiel der Teddybär ein, den einer ihrer ehemaligen Liebhaber - war es Bob oder Ken? - Gemma vor Jahren geschenkt hatte. Selbst als sie älter wurde, schlief Gemma nie ohne ihn. Als sie nun daran dachte, überkamen Brenda erneut Schuldgefühle. Wenn es noch eine Chance gab, dass ihre Tochter am Leben war, dann würde sie ihren Teddybär furchtbar vermissen. Ohne ihn würde sie sehr unglücklich sein. Aber nein. Gemma war tot, daran gab es keinen Zweifel.
Sie ging nach oben in Gemmas Zimmer und Lenora Carlyle folgte ihr. Während Brenda an das kleine Bett trat, um den Bären zu holen, blieb Lenora an der Türschwelle stehen und schien ein paar Mal tief Luft zu holen.
»Was ist denn?«, wollte Brenda wissen.
Lenora antwortete nicht. Stattdessen ging sie weiter, nahm Brenda den Bären aus der Hand und setzte sich mit ihm auf das Bett. Die Tagesdecke war mit allerlei Figuren von Walt Disney bedruckt: Mickey Mouse, Donald Duck, Bambi und Dumbo. Gemma hatte Zeichentrickfiguren über alles geliebt. Nur sie hatten ihr zuweilen ein Lächeln entlockt, erinnerte sich Brenda. Aber es war ein seltsames, nach innen gekehrtes Lächeln, das man nicht teilen konnte.
Lenora drückte den Bär an ihre Brust und begann ihn langsam mit geschlossenen Augen hin und her zu wiegen. Brenda lief ein Schauer über den Rücken. Es kam ihr vor, als hätte sich die Atmosphäre im Zimmer unmerklich verändert und wäre plötzlich dichter, tiefer und kälter geworden. Scheinbar eine Ewigkeit lang hielt Lenora den Bär so in ihren Armen. Brenda umklammerte den Kragen ihrer Bluse. Dann öffnete Lenora endlich die Augen. Sie waren glasig und schauten unbestimmt in die Ferne.
»Gemma ist am Leben«, verkündete sie. »Sie lebt. Aber, oh, sie ist so allein, so verängstigt. Sie muss so furchtbar leiden. Sie fehlen ihr. Ihre Mutter fehlt ihr. Sie braucht Sie, Brenda. Sie müssen sie finden.«
Brenda wurde schwindelig. »Das kann nicht sein«, flüsterte sie. »Man hat ihre Sachen gefunden ... Ich habe sie gesehen.«
»Sie lebt, Brenda.« Lenora drehte sich zu ihr und packte Brenda am Handgelenk. Ihr Griff war fest.
Brenda suchte Halt an der Lehne des kleinen Stuhls vor Gemmas Schreibtisch. Sie taumelte, ihre Haut war kalt und klamm, so, als hätte sie zu viel getrunken und alles würde sich um sie drehen. »Wo
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