Inspector Alan Banks 07 Die letzte Rechnung
Gänsehaut gekriegt.«
»Wie geht es der Tochter?«
»Alison? Einigermaßen, jedenfalls nach außen hin.« Banks zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ist sie widerstandsfähiger oder sie kann es einfach besser verdrängen. Tina Smithies meint, sie fürchtet, dass die beiden den Bezug zur Realität verlieren.« Er schaute auf seine Uhr. »Ich muss los.«
Sandra folgte ihm zur Tür und lehnte sich an das Treppengeländer. Während sie zuschaute, wie er sein leichtes graues Sportjackett anzog und seine Tasche nahm, knabberte sie an ihrem Toast. »Ich kann nicht behaupten, sie gut genug zu kennen, um mir ein Urteil zu erlauben«, sagte sie dann und zog den Kragen ihres Morgenmantels zusammen, als Banks die Tür öffnete, »aber ich hatte das Gefühl, dass sie eine ist ... also, sie hat sich ein paar Allüren angeeignet. Sie ist nicht wirklich eine Angeberin, aber sie macht so ein bisschen auf große Dame. Sie hat etwas Herrisches an sich. Und sie legt Wert darauf, dass die Leute wissen, wie reich sie ist. Du verstehst schon, sie protzt mit ihren Ringen, mit Juwelen und solchem Zeug. Außerdem habe ich den Eindruck, dass sie eine sehr kalte Frau ist, ich weiß nicht, warum. Überall scharfe Kanten, wie eine Schublade voller Küchenmesser.«
Banks lehnte sich an den Türpfosten. »Insgesamt ist das eine verdammt seltsame Familie«, sagte er.
Sandra zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, ich steuere einfach meinen bescheidenen Teil bei. Ich nehme an, du weißt nicht, wann du zurück sein wirst, oder?«
»Nein. Tut mir Leid, ich muss mich beeilen.« Banks riskierte einen schnellen Kuss auf ihre Lippen. Sie schmeckten nach Erdbeermarmelade.
»Kannst du mir heute den Wagen hier lassen?«, rief Sandra hinter ihm her. »Ich würde gerne nach Ripon zu einer Aquarellausstellung fahren. Einer von unseren Künstlern stellt dort aus. Ich weiß übrigens auch noch nicht, wann ich zurück sein werde.«
»Okay«, sagte Banks und zuckte bei der letzten Bemerkung zusammen. Wenn er einen Wagen benötigen sollte, konnte er immer einen vom Revier nehmen. Dann würde er zwar keine Kassette hören können, aber schließlich konnte man nicht alles haben, oder? Ein Radio würde es schon geben. Entschlossen, sich nach der furchtbaren Nacht nicht die Laune verderben zu lassen, ging er los.
Es war ein herrlicher Morgen. Bilderbuchwetter. Endlich war der Mai, so wie er ihn kannte, angekommen. Abgesehen von wenigen hochliegenden milchigen Wirbeln war der Himmel wolkenlos blau, und selbst so früh am Morgen schien die Temperatur im Gegensatz zu gestern um ein paar Grad angestiegen zu sein. Banks wäre nicht überrascht gewesen, wenn er die Jacke im Laufe des Tages nicht mehr brauchen würde.
Beim Gehen stöpselte er die Kopfhörer ein und schaltete den Walkman in seiner Tasche an. Die Kassette begann mit dem jazzigen Forlane, dem dritten Satz aus Ravels Klavierwerk Das Grabmal Couperins. Nicht schlecht für einen Spaziergang zur Arbeit an einem herrlichen Frühlingsmorgen.
Er musste nur etwas mehr als einen Kilometer die Market Street entlanggehen, und Banks mochte die Art, wie sich beinahe Meter für Meter das Stadtbild veränderte. In dem Teil der Stadt, in dem er wohnte, war die Straße breit, die Gegend ähnelte den Randbezirken fast jeden Stadtzentrums: eine Hauptstraße mit einer Tankstelle, Supermarkt, Schule, Zebrastreifen und Kreisverkehr, von dem Wohnstraßen mit viktorianischen, größtenteils zu Studentenwohnungen umgebauten Häusern abzweigten, Straßen mit Namen wie Mafeking Avenue, Sebastopol Terrace, Crimea Close und Waterloo Road, und in denen ein strenger Geruch nach Abgasen in der Luft lag.
Aber je näher die Market Street dem eigentlichen Marktplatz kam, desto enger wurde sie und desto mehr verwandelte sie sich in eine Touristenattraktion mit überhängenden Erkerfenstern in den ersten Stockwerken, aus denen die Bewohner ihren Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite beinahe die Hände schütteln konnten; mit den Butzenscheiben niedlicher Andenkenläden; einem teuren Geschäft für Wanderausrüstung mit in der Tür hängender orangenfarbener Goretex-Kleidung und einem Ständer Wanderstöcke auf dem Gehsteig; einer erst jüngst eröffneten Waterstone-Buchhandlung; den sich vermischenden Düften von Hambletons Tee-und-Kaffee-Reich und Farleighs Bäckerei gegenüber; einer Oddbins Weinhandlung; dem Golden Grill Café und einem Zeitungshändler, in dessen Schaufenster
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