Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel
Außerdem befand sich die Verfärbung in einem frühen Stadium, sie konnte also noch nicht lange dort gelegen haben. Normalerweise beginnt die livide Verfärbung ungefähr eine halbe bis eine Stunde nach dem Tod, entwickelt sich voll nach drei bis vier Stunden und erreicht ihr Endstadium nach acht bis zehn Stunden. Die Totenflecken waren noch nicht ausgeprägt, man konnte sie noch wegdrücken.«
»Würden Sie dem Gericht zuliebe erklären, was Sie mit >wegdrücken< meinen?«
»Selbstverständlich. Wenn man einen Totenfleck berührt, bevor das Blut in den Gefäßen geronnen ist, wird er weiß. Wenn man seine Fingerspitze wieder entfernt, nimmt die Stelle ihre Verfärbung wieder an. Nach vier oder fünf Stunden verhärten sich die Totenflecken, das Blut ist geronnen und die Flecken können nicht mehr weggedrückt werden.«
»Und was sagt Ihnen das?«
»Unter anderem hilft es, die Todeszeit festzustellen. Wie gesagt, die livide Verfärbung hatte gerade erst begonnen und die Leichenstarre hatte noch nicht eingesetzt. Sie beginnt für gewöhnlich ungefähr zwei oder drei Stunden nach dem Tod in den Augenlidern. Außerdem habe ich die Körpertemperatur gemessen und mit Hilfe einer mathematischen Formel errechnet, dass der Tod irgendwann zwischen fünf Uhr und ihrer Entdeckung eingetreten sein muss.«
»Nicht früher?«
»Nach meiner Auffassung wäre das wirklich äußerst unwahrscheinlich.«
»Und da Megan Preece, die Freundin des Opfers, aussagt, sich um sechs Uhr nahe der Brücke von Deborah getrennt zu haben, und angesichts der Tatsache, dass Daniel Charters Owen Pierce um ...«
»Einspruch!«
»Stattgegeben.« Richter Simmonds drohte mit einem knochigen Finger. »Mr Lawrence, bitte zügeln Sie sich!«
Lawrence verneigte sich. »Euer Ehren. Ich danke Ihnen, Dr. Glendenning. Ich habe keine weiteren Fragen.«
Shirley Castle erhob sich zum Kreuzverhör. »Ich habe nur ein paar Fragen, Doktor«, sagte sie forsch. »Im Grunde Nebensächlichkeiten. Ich werde Sie nicht lange aufhalten.«
Dr. Glendenning neigte seinen Kopf und lächelte sie liebenswürdig an.
»Ich nehme an, Sie haben am Tatort die Entnahme von oralen, vaginalen und analen Abstrichen angeordnet?«, begann Shirley Castle.
»Das habe ich.«
»Und haben Sie Samenspuren gefunden?«
»Nein, keine.«
»Überhaupt keine?«
»Das ist korrekt.«
»Haben Sie bei der Obduktion Anzeichen für einen erzwungenen Verkehr entdeckt?«
»Ich habe überhaupt keine Anzeichen für einen Verkehr gefunden, weder für einen erzwungenen noch für einen sonstigen.«
Shirley Castle runzelte die Stirn. »Dennoch haben Sie vorhin in Ihrer Aussage von einem Sexualverbrechen« gesprochen. Erscheint Ihnen der Mangel an Beweisen bei einem solchen Verbrechen nicht ungewöhnlich?«
»Eigentlich nicht. Es gibt viele Arten von Sexualverbrechen. Nach meiner Erfahrung erinnerte die Art, wie die Kleidung durcheinander gebracht worden war, an ein Sexualverbrechen.«
»Und wir haben ja bereits von Ihren hervorragenden Referenzen als Experte für derartige Fälle gehört. Wie exakt ist Ihre Schätzung der Todeszeit?«
»Dabei muss man immer von Näherungswerten ausgehen«, gab Glendenning zu. »Es gibt ungeheuer viele Variablen.«
»Können Sie dem Gericht ein Beispiel geben, wie Sie für gewöhnlich die Todeszeit bestimmen?«
»Selbstverständlich. Wie ich bereits bemerkt habe, gibt es eine Reihe zu beachtender Faktoren, als da wären Leichenstarre, Hautverfärbung und Mageninhalt; am genauesten ist jedoch meistens die Körpertemperatur. Wenn die Temperatur zur Todeszeit normal ist - also siebenunddreißig Grad Celsius -, kann man angesichts der Tatsache, dass es vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden dauert, bis die Leiche die Temperatur ihrer Umgebung angenommen hat, die Todeszeit errechnen.«
»Vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden«, wiederholte Shirley Castle und wandte sich stirnrunzelnd an die Jury. »Das heißt also, zwischen einem und anderthalb Tagen. In einer derart breiten Spanne sind ziemlich viele Fehler möglich, oder?«
Glendenning lächelte. »Ich sagte ja, dass man nur von Näherungswerten ausgehen kann.«
»Ja, aber Sie sagten nicht, wie furchtbar ungenau die Berechnung ist.«
»Einspruch!«
»Stattgegeben, Mr Lawrence.«
Shirley Castle verneigte sich. »Ich bitte um Verzeihung. Doktor Glendenning, wie lange hat es
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