Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel

die Adern im Hals blockiert wurden und die Zunge in die Kehle zurückgedrückt wurde, wodurch die Luftaufnahme abgeschnitten war. Dafür gibt es bestimmte, typische Anzeichen. Menschen, die an einer Hemmung des Nervensystems sterben, sind blass; diejenigen, die durch Asphyxie sterben, haben eine rötlich violette Verfärbung. Außerdem treten im Falle der Asphyxie petechiale Hämorrhagen auf, kleine punktförmige Blutungen im Weißen der Augen, in den Augenlidern und der Gesichtshaut. Entgegen der Populärliteratur tritt die Zunge nicht hervor.«
      Owen schaute kurz hinüber zu Sir Geoffrey und Lady Harrison, den Eltern des Opfers, die der Verhandlung fast jeden Tag beigewohnt hatten. Lady Harrison wandte sich an ihren Mann und berührte für einen Moment mit ihrem Kopf seine Schulter. Beide waren bleich.
      In diesem Augenblick hatte Owen das Gefühl, die kaltblütige Logik der Strategie der Staatsanwaltschaft wie die dramatische Struktur eines Theaterstücks oder eines Romans erahnen zu können, und es lief ihm kalt den Rücken hinunter.
      Nach Rebecca Charters' emotionaler Beschreibung ihrer Entdeckung der Leiche und Banks' fundiertem, professionellem Bericht über die polizeiliche Ermittlung hätten die Geschworenen, wenn alles nach Plan gelaufen wäre, Michelles Aussage gehört. Sie hätten nur eine süße, unschuldige junge Frau im Zeugenstand gesehen und gehört, wie dieses Monster auf der Anklagebank versucht hatte, sie zu erwürgen. (Er war sich sicher, dass sie bei der Darstellung der Attacke ihre langen, schlanken Finger an ihren Hals gelegt hätte.) Danach hätten sie die grausamen, medizinischen Details über die Auswirkung einer Erdrosselung erfahren. Und welche Meinung hätten sie nach alldem von Owen gehabt?
      »Ich danke Ihnen, Doktor Glendenning«, fuhr Lawrence fort. »Können Sie uns erzählen, wie das Opfer in diesem Fall erdrosselt worden ist?«
      »Ja. Mit einem Band. Einem Riemen des Ranzens, um genau zu sein.«
      »Und wurde dieser Riemen in der Nähe des Tatortes gefunden?«
      »Ja. Er war immer noch am Ranzen des Opfers befestigt.«
      »Haben Sie als Fachmann irgendeinen Grund, daran zu zweifeln, dass er als Mordwaffe benutzt worden ist?«
      »Nein, keinen. Wir haben eine Reihe von Tests durchgeführt. Der Riemen des Ranzens passt eindeutig in die Einkerbungen am Hals des Opfers. Er wurde leicht nach oben gezogen und hat am unteren Rand in die Haut geschnitten, was darauf schließen lässt, dass sie von hinten erdrosselt worden ist und dass ihr Mörder größer war als sie. Am Rand des Riemens haben wir Blutspuren gefunden.«
      »Wie viel größer war der Mörder?«, fragte Jerome Lawrence.
      »Das Opfer war einen Meter achtundsechzig groß. Ich würde also sagen, dass der Mörder mindestens fünfzehn Zentimeter größer war, vielleicht mehr.«
      »Und der Angeklagte ist einen Meter sechsundachtzig groß, wie bereits dargelegt worden ist?«
      »Ich glaube, ja.«
      »War dazu eine große Kraftanstrengung nötig?«
      »Eine gewisse, ja. Aber keine übermenschliche.«
      »Machte es die Art des Angriffs dem Opfer schwer, sich gegen ihren Mörder zu wehren?«
      »Fast unmöglich. Sie konnte nicht viel tun. Es könnte ihr natürlich gelungen sein, zu kratzen oder mit dem Absatz nach hinten gegen die Schienbeine zu treten.«
      »Sie erwähnten >kratzen<. Wäre das möglich gewesen, wenn sie von hinten erdrosselt worden ist?«
      »Aber ja. Es ist durchaus denkbar, dass sie nach hinten gefasst und ihren Angreifer gekratzt hat.«
      »Konnten Sie feststellen, ob sie auf dem Friedhof von St. Mary's oder an anderer Stelle ermordet worden ist?«
      »Ja, und zwar durch das Ausmaß der lividen Verfärbung der Leiche, den so genannten Totenflecken. Das bedeutet ...« Er wandte sich ohne Lawrence' Aufforderung für seine Erklärung an die Geschworenen, »... dass das Blut, wenn das Herz aufhört zu schlagen, den Gesetzen der Schwerkraft gehorchend einfach in die untersten, den Boden nahen Bereichen des Körpers sinkt. Es sammelt sich und verfärbt die Partien, die keinen Kontakt zum Boden haben. Die Stellen des Körpers, die Kontakt zum Boden haben, bleiben natürlich weiß, weil der Druck dem Blut nicht erlaubt, sich in den Kapillaren auszubreiten. In diesem Fall haben die Verfärbungen des Nackens, des Rückens und der Rückseiten der Beine darauf schließen lassen, dass die Verstorbene seit ihrem Tod an der gleichen Stelle gelegen hat.